Mühlenviertel Es Jonquet: Vom Schandfleck zum Postkartenidyll – aber es bleiben Probleme
Es Jonquet ist eines der ungewöhnlichsten Stadtviertel Palmas. Jahrzehntelang von Drogenhandel, Kriminalität und Verfall geprägt, ist es heute eine der gefragtesten Ecken der Inselhauptstadt. Wäre da nur nicht dieses eine Problem
Allzu lange ist es noch nicht her, da lungerten rund um das Reihenhaus in Palmas StadtviertelEs Jonquet die Junkies. Nachts wagte sich kaum jemand, der nicht gerade auf die Dienste der dort ansässigen Dealer angewiesen war, in die dunklen Gassen. Heute ist das zweistöckige Haus aufwendig renoviert und zu einem Luxusobjekt umgebaut. Kosten: mehr als zwei Millionen Euro. Kaum ein Viertel in Palma hat in den vergangenen Jahren einen dermaßen radikalen Wandel durchgemacht wie das Mühlenviertel Es Jonquet.
Adrett sehen sie aus, die kleinen, aufgehübschten Häuschen. In den verwinkelten Gassen stehen an den Hauswänden üppig bewachsene Blumenkübel. Bougainvilleen heben sich knallpink von den weißgetünchten Hauswänden ab. Die Sonne scheint und es herrscht die reinste Idylle. Der Blick reicht weit über Palmas Hafen hinweg aus offene Meer.
Die Entwicklung in Es Jonquet beobachtet seit vielen Jahren der mallorquinisch-schwedische Schriftsteller und Lokalforscher Albert Herranz. Lange hat er im benachbarten Santa Catalina gelebt und ein Buch über Es Jonquet veröffentlicht. „Es war wirklich eines der allerärmlichsten Viertel der Stadt”, sagt er. Gleichzeitig hatte es – im wahrsten Sinne des Wortes – herausragende Bedeutung: Bis zu sieben Windmühlen reckten sich weithin sichtbar aus der Silhouette Palmas in den Himmel.
„Wenn Du mit dem Schiff ankamst, waren die Mühlen stets mit das erste, was Du gesehen hast”, sagt Herranz. Dennoch: So richtig wertgeschätzt wurde Es Jonquet lange Zeit nicht. Eher im Gegenteil. Erst, als Ausländer zu Beginn der 2000er Jahre anfingen, Unsummen selbst für die heruntergekommensten Häuser zu bieten, hätten die Mallorquiner gemerkt, wie schön es dort eigentlich ist.
Schon immer wusste das Ana Maria Talego. Als zehnjähriges Mädchen kam sie 1967 nach Es Jonquet. Ihre Eltern waren als Einwanderer vom Festland nach Palma gezogen und fanden in dem damals noch überwiegend von Fischern bewohnten Viertel ein neues Zuhause. „Hier, dort drüben, auf dem Platz, da breiteten die Männer ihre Netze aus, um sie zu flicken”, sagt die 66-Jährige und weist auf die Plaça del Vapor. Damals seien die Lebensumstände in Es Jonquet sehr einfach gewesen. Fließendes Wasser oder eine Kanalisation gab es nicht. Der Brunnen, an dem sich die Bewohner bis in die 1990er Jahre mit Trinkwasser versorgten, steht noch heute.
„Es ist einfach etwas ganz Besonderes, hier zu leben”, sagt Talego. „Wir sind wie eine Familie. Das hat sich auch bis heute nicht geändert.” Da wäre zum Beispiel ihre Nachbarin, Joaquina Padial, die gleich nebenan wohnt und auf einen Zuruf ihrer langjährigen Freundin gleich herbeigeeilt kommt. Padial ist 1965 in Es Jonquet zur Welt gekommen, als Tochter eines Fischers. „Wir beide sind wie Schwestern”, sagt sie. „Wir helfen uns, wo es geht.” Aus ihren Kindheitstagen sind nur noch wenige Nachbarn übrig geblieben. „Das Viertel hat sich schon sehr verändert.” Früher etwa standen die Türen der Häuser immer offen. Kriminalität habe es nicht gegeben. Heute prangt an jedem zweiten Haus das Logo einer Sicherheitsfirma.
Ursprünglich befand sich an der Stelle, wo heute Es Jonquet liegt, ein jüdischer Friedhof, erklärt Albert Herranz. Wo genau, ist allerdings unklar. Auch die Opfer mittelalterlicher Pest- und Cholera-Epidemien wurden hier auf dem Gelände, das an der alten Landstraße von Palma zum Hafen von Porto Pí lag, vergraben. Zum Teil handelte es sich um ein Feuchtgebiet, auf dem die Binsen wuchsen, „Juncos”, daher der Name des Viertels.
„Es war eine sehr unwirtliche Gegend”, sagt Herranz. „Als erste ließen sich dort nach der Reconquista Einsiedler aus Tarragona nieder.” Das wirkt bis heute nach, ist doch der Name des Heiligen Magí – des Schutzpatrons der katalanischen Stadt – in dem Stadtviertel allgegenwärtig: Der Carrer Sant Magí ist eine der wichtigsten Straßen dort und auch die Kirche des Viertels heißt zumindest im Volksmund so, wie der katalanische Heilige. Und dann ist da noch der Sturzbach Torrent de Sant Magí, der sich von Palmas Nobelviertel Son Vida am Pueblo Español vorbei bis zum Meer schlängelt. Heute verläuft er zum Großteil unterirdisch, lediglich die Plaça del Pont verrät noch mit ihrem Namen, dass hier einst eine Brücke über den Torrent führte.
Auch Handwerker siedelten sich bald in Es Jonquet an, unter anderem Seilmacher, wie Herranz erklärt, die besonders viel Platz für ihre Arbeit benötigten, den sie hier, vor den Toren der Stadt, fanden. Zu Beginn des 15. Jahrhunderts dann wurde die erste der Windmühlen gebaut, mit deren Hilfe Korn zu Mehl verarbeitet wurde (eine diente zum Heraufpumpen von Grundwasser). Es Jonquet entwickelte sich so neben Es Molinar zum zweiten Mühlenviertel der Stadt. Auch Fischer, die ihre Boote unterhalb der Klippen liegen hatten, ließen sich in Es Jonquet nieder. Heute ist es vor allem dieses Kollektiv, mit dem der Stadtteil in Verbindung gebracht wird.
Seit den 1950er Jahren trennt der damals neu gebaute Passeig Marítim das Viertel vom Meer – nicht der einzige Hinweis darauf, dass die Belange der Bewohner jener Gegend für Palmas Stadtplaner keine besonders hohe Priorität genossen. Noch bis in die 1980er Jahre hatten fast alle der überwiegend ungepflasterten Straßen des Viertels keine Namen, sondern waren schlicht und einfach durchnummeriert. Noch damals verfügte kaum eines der Häuser über fließendes Wasser, eine Kanalisation gab es nicht. Investitionen der öffentlichen Hand? Fehlanzeige. Einer der Gründe: Es handelte sich um ein traditionell eher linkes Viertel, während der Diktatur wurden diese Arbeitergegenden eher stiefmütterlich behandelt, so Herranz. „Die Verwahrlosung wurde in Kauf genommen.”
Dazu kam: In den 1980er Jahren entwickelte sich Es Jonquet zum Drogenviertel schlechthin in Palma. Eine Zeit, an die sich Ana Maria Talego und Joaquina Padial mit Schrecken erinnern. Am hellichten Tag und in aller Öffentlichkeit versorgten die Dealer ihre Kunden mit Heroin und anderen Rauschmitteln. Gewalt und Drogentote gehörten zum Alltag. „Es gibt bis heute ältere Bewohner Palmas, die wegen des schlechten Rufs von Es Jonquet noch nie dort waren”, sagt Albert Herranz.
Nein, freiwillig lebte dort damals niemand: Zwischen 1940 und 1980 sank denn auch die Zahl der Bewohner von etwa 2000 auf 840. Kein Wunder, dass die Politiker immer wieder auch erwogen, das ganze Viertel kurzerhand abzureißen und komplett neu zu bebauen. Bestrebungen, die die Anwohner allerdings in gemeinschaftlicher Anstrengung verhindern konnten. Zuletzt stieg die Zahl der gemeldeten Einwohner zwischen 2015 und 2022 von 603 auf 644.
Offiziell umfasst Es Jonquet den gesamten Bereich südlich des Carrer Sant Magí zwischen den Straßen Avinguda de l’Argentina und Montsenyor Palmer. Traditionell aber bilden Santa Catalina und Es Jonquet eine Einheit, wie Herranz betont. Seit 2009 steht das Mühlenviertel als historisches Ensemble unter Denkmalschutz, explizit genannt sind im entsprechenden Beschluss neben den fünf noch existierenden Windmühlen eine Reihe weiterer Bauwerke, wie etwa der historische Waschplatz, das Wohnhaus Can Figuerola, das Gebäude, in dem die Eisenwarenhandlung „La Central” untergebracht ist, das Theater „Mar y Terra” sowie das „Hostal Cuba”.
Die damalige Entscheidung des Inselrats verhinderte die geplante Bebauung einer bis heute brachliegenden Fläche, die sich im Besitz des Großkonzerns Acciona befindet. Mehrstöckige Wohnhäuser, ein Einkaufszentrum und ein Parkhaus sollten dort entstehen und hätten den Charakter des Viertels zweifellos nachhaltig verändert. Derzeit sieht ein stark reduziertes Bebauungsprojekt, für das mittlerweile ein positives Umweltgutachten vorliegt, lediglich noch 62 Wohneinheiten vor. Eine der Auflagen der zuständigen Behörde: Es müssen Präventivmaßnahmen ergriffen werden, um negative Auswirkungen auf die dort lebenden Pityusen-Mauereidechsen zu verhindern.
Mittlerweile gibt es auch einen eigenen Flächennutzungsplan für das Viertel, der dessen Charakter bewahren soll. Neben strengen Bauvorschriften gibt es nun auch klare Vorgaben, was die künftige Nutzung der Windmühlen angeht. Zwei davon sind seit 1987 beziehungsweise 1993 im Besitz der Stadt. In den restaurierten Gebäuden befinden sich ein Ausstellungs- und ein Bürgerzentrum. Die Windmühlen in Privatbesitz können künftig zu Wohnungen umgebaut werden, oder aber gastronomische Betriebe beherbergen. Vor allem die schwierigen Eigentumsverhältnisse aber haben eine solche Nutzung und damit einhergehende Restaurierung bislang verhindert.
Im Gegensatz zu den meisten Häusern des Viertels, die mittlerweile schick herausgeputzt sind. Zu verdanken ist das vor allem Investoren aus Mittel- und Nordeuropa, die die meisten der alten Fischerhäuser aufgekauft und renoviert haben. „Das sind alles nette Leute, die grüßen, wenn man sich begegnet”, findet Ana Maria Talego. „Wir wollen hier nur keine Leute, die Probleme machen.” Sie selbst hat kürzlich ihr Elternhaus an zwei Ausländer verkauft. Jetzt stehen davon nur noch die Außenmauern.
Der Käufer, Dragan Mirosavljevic, will in dem winzigen, 41-Quadratmeter großen Eckhaus ein Wohn-, ein Schlaf- und ein Badezimmer sowie eine Küche unterbringen. Die strengen Bauauflagen in dem Viertel verbieten nicht nur das Aufstocken des Gebäudes, sondern machen auch die Überwachung der Arbeiten durch einen Archäologen nötig. Falls irgendwelche historischen Überreste zum Vorschein kommen sollten, wie Mirosavljevic sagt. Ihm gefällt das Viertel besonders wegen seines dörflichen Charakters. „Man hat das Gefühl, man ist auf einem Dorfplatz, nicht mitten in der Großstadt.” Er träumt davon, künftig morgens einfach die Stühle vor die Tür zu stellen und dort zu frühstücken.
Albert Herranz sieht die Entwicklung in Es Jonquet auch mit Sorge. „Das Viertel verwandelt sich in eine Postkarte”, sagt er. „Postkarten aber sind zweidimensional. Wir verlieren unsere Substanz.” So sei es unmöglich, ein echtes Gefühl des Miteinanders zu entwickeln, wenn jeder zweite Nachbar ein ausländischer Investor ist, der lediglich hin und wieder mal vorbeikommt. Nein, lebenslange Freundschaften wie die von Ana Maria und Joaquina, die wird es in Es Jonquet künftig wohl eher nicht mehr geben.
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