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Die Ankunft auf der Insel im März 1933 ist letztlich nur eine Atempause auf der langen Flucht ins Exil, das der Schriftstellerin Marte Brill und ihrer Tochter Alice noch bevorstand. Bis Ende August sollten sich die beiden auf Mallorca aufhalten und die Licht- und Schattenseiten der Insel kennenlernen, bevor es das Duo über weitere Stationen in Italien und den Niederlanden schließlich nach Brasilien verschlagen sollte. Über all diese Erlebnisse hat Marte Brill einen Roman geschrieben, der erst posthum im Jahre 2002 unter dem Titel "Der Schmelztiegel" veröffentlicht wurde, nachdem der US-Germanist Reinhard Andress in einem Archiv auf das Manuskript gestoßen war.

Die Fluchtetappe auf Mallorca nimmt in dem Roman nur einen kleinen Raum ein, doch ist diese Phase für die Kleinstfamilie wichtig, da sie - unreligiös, liberal und freigeistig - sich nun auch emotional der jahrhundertealten Verfolgung der Juden zutiefst bewusst wird. Schon die Ahnen von Mutter und Tochter waren im Mittelalter aus Spanien vertrieben worden, schreibt Brill in ihrem autobiographischen Roman, in dem sie sich selbst "Sylvia" sowie ihre Tochter "Miriam" nennt:

"Wir sind Juden", sagte Sylvia in dieser Stunde. "Jetzt erst recht", antwortete das Kind. Sie reichten sich die Hände: ein Glied in der Kette von Generationen.

Marte Brill (1894-1969) hatte nach ihrer Jugend in Köln und einem Studium in Heidelberg mehrere Jahre als freie Journalistin und Reisereporterin für Rundfunk und Tageszeitungen in Hamburg gearbeitet. Ihre Tochter, geboren Ende 1920, stammte aus einer Verbindung mit dem jüdischen Maler Erich Brill (1895-1942). Die Ehe war bald nach der Geburt des Kindes geschieden worden, obgleich das Paar Kontakt hielt, bis zur Ermordung des Künstlers durch die Nazis in Riga.

Dank ihres geschärften Blicks als Journalistin sah Marte Brill 1933 mit der Ernennung Hitlers die Zeit für sich und Alice gekommen, Deutschland zu verlassen. Da war es hilfreich, dass bereits eine längere Arbeitsreise im Mittelmeerraum geplant war, die sie mit ihrer Tochter antrat und schließlich auf Mallorca beendete, da Brill keine Rückkehr nach Deutschland vorsah. Der Roman hält die Ankunft der beiden fest:

In der Morgenfrühe des nächsten Tages standen sie auf der schmalen Reede von Palma de Mallorca. Heiter wirkte die Stadt und aufgeschlossen, das Meer lockte mit glitzernden kleinen Wellen und aufgespannten Segeln. Und doch gingen sie mit suchenden Augen unsicher durch die alten Gassen, wie Erwachende, die Schlaf und Traum von den Wimpern schütteln müssen.

Bald schon finden sich Mutter und Tochter bei Alcúdia im Norden der Insel wieder. Ein Ort abseits auch von deutschen Emigrantenzirkeln wie Cala Rajada, wo etwa die Autoren Karl Otten oder Franz Blei Unterschlupf gefunden hatten. Aus neuesten Forschungen wie "Die Zeit zerbröckelt. Das mitteleuropäische Exil in Cala Rajada" ist bekannt, dass die Zahl der dortigen Einwohner sich durch den Zuzug von Ausländern auf 400 verdoppelt hatte. Ein Viertel davon stellten die Deutschen, viele von ihnen Emigranten im Exil.

Brill und Tochter mieten indes ein Landhaus am Meer, umgeben von unzähligen Feigenbäumen. Finanziert wurde die Bleibe mit monatlichen Zuwendungen, die Brills in den USA lebender Bruder Bob seiner Schwester aus New York zukommen ließ.

Im abgelegenen Alcúdia dürften Mutter und Tochter weitgehend isoliert und abgeschnitten gewesen sein von Kontakten zu anderen Deutschen, wie solche in Cala Rajada und erst recht im vergleichsweise kostenintensiveren Palma in weitaus größerer Zahl anzutreffen waren. Offenbar wollte Brill in der Abgeschiedenheit die kommende Entwicklung in Deutschland abwarten.

Die Tageszeitungen verhießen indes nichts Gutes. Bereits bei der Ankunft in Palma waren nach der langen Seereise, bei der Brill noch von ihrer deutschen Kollegin Ingrid begleitet worden war, die schlechten Nachrichten regelrecht auf sie eingeprasselt. Der Roman schildert die Situation:

Sylvia wartete mit Miriam auf der Terrasse des Cafés "Alhambra", bis Ingrid mit den letzten Berliner und Schweizer Zeitungen kam. Und Ingrid las: "Judenboykott in Deutschland!" ... nichtarische Geschäfte geschlossen ... Massenverhaftungen ... Selbstmorde ..." Die Nachrichten überstürzten sich.

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Von der mallorquinischen Vermieterin Antonia, die in Alcúdia selbst wohnt, werden Brill und besonders die kleine Alice regelrecht lieb gewonnen. In der neuen Umgebung klettert und schwimmt das Kind, wird von der Sonne gebräunt, spricht schon bald den Dialekt der heimischen Bevölkerung. Doch der heute vielfach vorherrschende Eindruck, die Dorfgemeinschaft sei einzig agrarwirtschaftlich strukturiert, derb und schlicht gewesen, täuscht. Mit Kennerblick hielt Brill in ihrem Roman die Erscheinungen der Moderne fest:

Auf der breiten Holztreppe, die von der oberen Galerie ins Erdgeschoss führte, kam ihnen eine junge Frau entgegen, ein anmutiges Geschöpf in städtischer Kleidung, mit rosigen Fingernägeln und blonden, gewellten Haaren. "Das ist meine Tochter Catalina", sagte Antonia stolz. Sylvia erstarrte vor Staunen. Zwei Generationen waren hier zwei Welten.

Die Beschreibungen Brills sind durchaus positiv. Mallorca ist eine "Insel des Friedens". Das Adjektiv "paradiesisch" fehlt bei der Darstellung des Gartens ebenso wenig wie bei der Landschaft. Die Meeresbucht selbst ist von Bergen umschlossen und "durchsichtig und klar wie ein Gebirgssee", dessen Grund "mit einem Teppich von Wasserpflanzen dicht bedeckt" ist.

Auch über die Kontakte von Mutter und Tochter zur Dorfbevölkerung weiß der Roman vorrangig Positives zu berichten:

Jeden Abend, wenn sie vom Strand zurückkehrten, wanderten sie zu dem kleinen Posthaus, das zwischen den Fischerhütten im Hafen lag. Der Postmeister saß mit seiner großen Familie behaglich bei der Abendmahlzeit und ließ sich nicht stören. Er schüttelte den Fremden die Hände, fragte, wie es ginge und wie das Obst reife, und ließ sie allein in die Poststube eintreten. Dort suchten sie unter den ausgebreiteten Briefen und Wertsendungen selbst ihre Post heraus. Es gab keinen Argwohn unter diesen einfachen Menschen.

Doch kein Paradies ohne Schlange. Brill erfährt nach und nach vom Schicksal der Xuetas, den Nachkommen zwangskonvertierter Juden, die in Mittelalter und Neuzeit Verfolgung und Unterdrückung zu erleiden hatten. Noch im Jahre 1691 waren Angehörige der Xuetas unterhalb der Burg von Bellver auf der heutigen Plaza Gomila in Palma lebendigen Leibes verbrannt worden. "Nirgendwo in Spanien hat die Inquisition so grausam gewütet wie hier auf Mallorca", hört die Roman-Figur Sylvia den Barbier sagen.

Das autobiografische Ich der Autorin ist geschockt. Die Exilantin, die aus rassischen Gründen aus Deutschland flüchtete, identifiziert sich mit jenen Juden, die wegen ihres Glaubens keine 250 Jahre zuvor auf der Insel hingerichtet worden waren. Für Sylvia ist damit die "Harmonie der Insellandschaft zerstört". In den nächtlichen Schatten der Kiefernwälder glaubt sie das Klagen der Gemarterten zu vernehmen.

Zu diesen Eindrücken kommen reale Sorgen, die Marte und Alice Brill dazu bewegen, die Insel zu verlassen. Zum einen kündigen sich finanzielle Probleme an, Arbeitsmöglichkeiten sind für die Mutter auf Mallorca nicht gegeben. Hinzu tritt die ungeklärte Schulfrage der Tochter. So geht die Odyssee einer unvorhersehbaren Emigration weiter, als beide Ende August oder Anfang September die Insel verlassen:

Sylvia aber stand am Heck und schaute zurück, bis ihre Augen schmerzten. Da war die noble Silhouette der Kathedrale, der goldene Engel auf dem Dach des Bischofspalastes - dort drüben auf dem Hügel, finster und mächtig, das alte Castillo de Bellver im Kranz grüner Pinienwälder. Dort unten hatten die brennenden Holzstöße weithin über das Meer geleuchtet ... Ich brauche nicht verbrannt zu werden, dachte Sylvia aufatmend. Der Seewind kühlte ihre heiße Stirn.

Thomas Mann, der das 1941 fertiggestellte Romanmanuskript ebenfalls zu Gesicht bekommen hatte, war voll des Lobes. Der Exilliterat beschied Brill, "ein erlebnisreiches und äußerlich wie innerlich stark bewegtes Buch" geschrieben zu haben, das "viel Rührendes und Erregendes von der Tragödie dieser Zeit einfängt".

(Der Roman „Der Schmelztiegel“ erschien 2002. Die Zitate sind der Taschenbuchausgabe des Piper Verlags München von 2004 entnommen. ISBN: 3-492-24076-3)

(aus MM 47/2017)