Als Kind überlebte der heutige Ibiza-Resident Siegfried Meir die Konzentrationslager Auschwitz und Mauthausen, konnte dem Tod auch deswegen entkommen, weil die Nazi-Schergen Gefallen an seinen blonden Haaren und dem "arischen" Namen gefunden hatten und ihm zeitweise eine schonende Behandlung zukommen ließen - nachdem sein Vater sofort nach der Deportation der Familie aus Frankfurt am Main erschlagen worden und die Mutter an Typhus zugrunde gegangen war.
In Mauthausen nahm ihn der spanische Republikaner Saturnino Navazo unter seine Fittiche. Der ehemalige Fußballprofi organisierte im Lager Turniere und machte den geschundenen Häftlingen damit neuen Mut. Als einer von ganz wenigen überstand er die brutalen Internierungsbedingungen, zog in ein Dorf bei Toulouse und wurde dort zum Adoptivvater für Siegfried Meir.
Der ist ihm bis heute dankbar und stellt die Erinnerung an ihn in den Mittelpunkt eines Dokumentarfilms von Luis Ortas, in dem es um Meirs Leben geht. Bei der Premiere von "Después de la Niebla" ("Nach dem Nebel") im Rahmen des Kino-Festivals "Mare Mostra" sprach der Überlebenskünstler auf mit MM. 70 Jahre nach Kriegsende und der Befreiung von Mauthausen am 5. Mai 1945 war der Film im Cineciutat auf Mallorca zu sehen.
Demnächst soll die internationale Ko-Produktion auch im Balearenfernsehen IB3 gezeigt werden, Anfang des Jahres lief sie bereits auf France 3. Was mit der englischen Version des 50-minütigen Dokumentarfilms passieren soll, ist noch offen. Meirs Geschichte ist auch in dem 2001 erschienenen Buch "Hijo de la Niebla" (Sohn des Nebels) beschrieben.
(aus MM 19/2015)
Das Interview wurde auf Spanisch geführt.
Mallorca Magazin: Zum Jahrestag der Mauthausen-Befreiung am 5. Mai werden Sie 81 Jahre alt. Dominiert in Ihrer Erinnerung die Zeit in Frankreich und auf Ibiza oder sind es die schrecklichen Kindheitserlebnisse?
Siegfried Meir: Ich gehöre nicht zu denen, die jedes Jahr auf Pilgerfahrt nach Auschwitz oder Mauthausen gehen und bin auch in keiner Opfervereinigung Mitglied. Als ehemaliger Deportierter fühle ich mich nicht wie ein berühmter Held, sondern als Opfer einer Vergewaltigung, die als völlig unerklärliches Schicksal über mich kam und meinen Charakter geprägt hat. Lange Zeit war es mein Ziel, das alles zu vergessen. Ich mache aber kein Drama daraus, sondern denke vor allem an die zweite Chance, die ich dank Saturnino Navazo bekommen habe. Ohne ihn wäre ich wahrscheinlich hasserfüllt im Gefängnis gelandet, weil man beim Überleben im KZ Dinge lernt, die außerhalb wenig hilfreich sind. Navazo hat aus mir das gemacht, was ich bin. Er war der Motor meines Lebens. Und natürlich denke ich mit Nostalgie an die Jahre als Chanson-Sänger in Frankreich und die Zeit auf Ibiza zurück.
MM: Warum nannte man Sie den „König von Ibiza”?
Meir: Ich kam genau im richtigen Moment auf der Insel an, wollte ernsthaft arbeiten statt feiern, und lernte die richtigen Leute kennen. Nach wenigen Jahren hatte ich fünf Restaurants, zwei Boutiquen und eine Galerie. Außerdem habe ich bei der Entstehung der Ad-Lib-Mode mitgemischt (also des typischen Ibiza-Stils ganz in Weiß, Anm. d. Red.), und den Club San Rafael gegründet. Heute heißt das Lokal „Privilège” und ist die größte Diskothek der Insel.
MM: Sie sind der Sohn des „Maradona von Mauthausen”, wie man ihn etwas makaber genannt hat. Was bedeutet Fußball heute für Sie?
Meir: Ich bin kein Fanatiker, aber ein Anhänger des FC Barcelona und schaue mir gern die Spiele an. Auch für die WM oder EM interessiere ich mich. Meine eigene Karriere als Fußballer war aber nicht besonders glanzvoll. Navazo zuliebe spielte ich als Verteidiger in einer Kindermannschaft. Einmal schoss ich aber ein Eigentor und war danach so frustriert, dass ich komplett aufgehört habe.
MM: Auf Ibiza sind Sie auch als Künstler bekannt. Wie steht es mit den nächsten Projekten?
Meir: Im Juni stelle ich in der Galerie Can Tixedo aus, sowohl Skulpturen als auch Bilder.
MM: Stimmt es, dass Sie nach der Kindheit nie mehr Deutsch gesprochen haben?
Meir: Das ist schwer zu erklären, vielleicht so etwas wie eine Allergie. Bis zum elften Lebensjahr war Deutsch meine Muttersprache. Dann habe ich das 30 oder 40 Jahre lang bewusst vergessen, weil es mich an die Vergangenheit erinnert und ich kein Masochist bin. Wenn man nichts mehr von einer Sprache wissen will, vergisst man sie irgendwann. Im KZ habe ich zum Beispiel auch Russisch und Polnisch gelernt, und damit ging es genau so.
MM: Wie war es, wenn Sie in Ihren Lokalen auf Ibiza wieder Deutsch hören mussten?
Meir: Das war kein Problem, die Distanz zu den Gästen war ausreichend. Außerdem habe ich nichts gegen Deutschland oder gegen Deutsche. Ich weiß auch, dass heute eine Generation lebt, die ganz anders denkt als ihre Vorfahren. Trotzdem habe ich Deutschland nie mehr betreten. Auch nicht mit meinem Freund Georges Moustaki, der die Atmosphäre dort sehr mochte und mich zu einer gemeinsamen Tournee als Sänger überreden wollte.
MM: Sie sprechen Spanisch mit einem leichten französischen Akzent. Fühlen Sie sich mehr als Franzose oder als Spanier?
Meir: Kulturell bin ich Franzose, im Herzen aber Spanier, schon wegen Saturnino Navazo. 25 Jahre meines Lebens habe ich in Frankreich verbracht, 45 auf Ibiza, und bis in die 80er-Jahre war ich staatenlos. Erst dann konnte ich Spanier werden.
MM: Von der eintätowierten KZ-Nummer 117.943 abgesehen, gehören auch verschiedene Namen zu Ihrer Identität.
Meir: Nach dem Krieg war ich Luis Navazo, der Sohn von Saturnino Navazo. Da damals keiner mehr Papiere hatte, bekam ich von den Amerikanern auch einen Nansen-Pass auf diesen Namen ausgestellt. Mit 14 oder 15 wollten die französischen Behörden das aber nicht mehr akzeptieren. Ein Anwalt musste in Frankfurt Nachforschungen anstellen, und ich bekam wieder den Namen Siegfried Meir. Bei der Einbürgerung in Spanien kam der mütterliche Nachname dazu. Im Pass steht jetzt also Siegfried Meir Bacharach. Den Namen Bacharach verwende ich auch speziell für die Malerei und Bildhauerei. Mein Pseudonym als Sänger war „Jean Siegfried”, was auch im Film eine Rolle spielt. Die Idee dazu kam mir durch ein Bonmot von Jean Cocteau über Marlene Dietrich. „Ihr Name beginnt wie eine Zärtlichkeit und endet wie ein Peitschenschlag”, sagte er. Bei „Jean Siegfried” sollte das so ähnlich sein.
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