Den Moment, als er den Eltern die furchtbare Gewissheit überbringen musste, wird Schulleiter Ulrich Wessel nie vergessen. In einem Klassenzimmer des Gymnasiums in Haltern am See am Nordrand des Ruhrgebiets sitzen Mütter und Väter der Kinder, die auf dem Rückweg von einem Schüleraustausch in Spanien waren. Gebucht auf Flug 4U9525 von Barcelona nach Düsseldorf.
In den Nachrichten laufen längst in Endlosschleife die Bilder von einem zerschellten Flugzeug in den französischen Alpen. Und dann bringt die Passagierliste Gewissheit: Die 16 Schülerinnen und Schüler sowie ihre beiden Lehrerinnen waren an Bord. Niemand hat überlebt. Als Wessel mit dieser Information in den Klassenraum zu den Eltern kommt, brechen Welten zusammen. Zehn Jahre ist das jetzt her. "Das Entsetzen war unvorstellbar", erinnert sich Wessel.
Unfassbare Absturzursache
Der Absturz der Germanwings-Maschine am 24. März 2015 um 10.41 Uhr ist eine der größten Katastrophen in der europäischen Luftfahrtgeschichte. Natürlich wegen der vielen Opfer. 150 Menschen sterben. Aber auch wegen der unfassbaren Absturzursache. Für die Ermittler in Frankreich und Deutschland besteht bis heute kein Zweifel, dass der 27-jährige Copilot Andreas Lubitz die Maschine absichtlich in das Felsmassiv bei Le Vernet steuert, weil er seinem Leben ein Ende bereiten will – mit 149 unschuldigen Menschen an Bord.
Lubitz passt demnach einen Moment ab, in dem er allein im Cockpit ist, und verstellt dann per Hand die Reiseflughöhe von 38.000 Fuß auf die tödliche Tiefe von 100 Fuß. "Diese Aktion kann nur vorsätzlich erfolgen", betont Staatsanwalt Brice Robin damals. In Lubitz' Düsseldorfer Wohnung finden Ermittler Belege für massive gesundheitliche Probleme des 27-Jährigen, der aus Montabaur in Rheinland-Pfalz stammt. Lubitz sei "instabil" und "psychisch krank" gewesen, sagt der französische Staatsanwalt Robin. "Absolut fluguntauglich".
Für viele Angehörige machen all diese Informationen die Katastrophe nur noch schlimmer. Wieso durfte Lubitz trotz dieser Vorgeschichte im Cockpit sitzen? Weshalb hat keiner seiner Ärzte Alarm geschlagen? Weshalb ist bei den jährlichen Flugtauglichkeitsuntersuchungen nie etwas aufgefallen?
Einige Hinterbliebene kämpfen aber auch Jahre später noch mit Zweifeln, ob die Behörden mit ihren Ermittlungsergebnissen wirklich richtig liegen. Denn manche Experten argumentieren, dass die Daten von Voicerekorder und Flugdatenschreiber auch anders interpretiert werden könnten – dass Copilot Lubitz womöglich im Cockpit ohnmächtig geworden sein könnte und es ausgerechnet in dem Moment zu mehreren gravierenden technischen Defekten gekommen sein könnte. Die meisten Experten halten diese Theorien aber für unplausibel und die Behörden sehen bislang keinen Anlass, die Ermittlungen noch einmal aufzunehmen.
"Das eigene Kind zu verlieren, das ist unvorstellbar"
Die Eltern der Spanisch-Austauschgruppe aus Haltern beschäftigen solche Fragen inzwischen nur noch selten. Sie teilen bei ihren monatlichen Treffen lieber schöne Erinnerungen, erzählen von ihren Kindern, weinen manchmal auch noch gemeinsam.
"Jetzt ist es schon das zehnte Jahr, und der Schmerz sitzt noch genauso tief. Man wacht damit auf, und man geht damit zu Bett", erzählt Engelbert Tegethoff. Seine Tochter Stefanie war 33 und eine der beiden Lehrerinnen, die die Schülergruppe nach Spanien begleitet hat. Ein paar Monate vor der Katastrophe hatte sie sich verlobt, plante die gemeinsame Zukunft mit ihrem Partner, wollte zu ihm ziehen, eine Familie gründen. Wie ihr Leben wohl heute aussähe? Und das der Schülerinnen und Schüler? "Das eigene Kind zu verlieren, das ist unvorstellbar", sagt Tegethoff.
Die Toten bleiben ein Teil der Schule
Am Joseph-König-Gymnasium ist große Pause. Die gut 1.000 Schüler toben auf dem Schulhof, albern herum, genießen die ersten Frühlings-Sonnenstrahlen. Direkt an diesem Getümmel steht sehr zentral die Gedenktafel, die an die 18 Absturz-Opfer aus der Schule erinnert. Der Ort wurde bewusst gewählt. "Wir wollten die Katastrophe in den Schulalltag mit reinnehmen – aber auch keine Stelle schaffen, an der man vor Trauer erstarren muss", erzählt Wessel. Neben den Namen brennt eine Kerze. Der Hausmeister sorgt dafür, dass das Licht nie erlischt. Auch nach zehn Jahren nicht.
Ein schwieriger Jahrestag
Der zehnte Jahrestag des Absturzes ist für viele Angehörige nochmal ein besonders aufwühlender Moment. Viele werden die Einladung der Lufthansa annehmen und nach Le Vernet zum Ort des Absturzes in den französischen Alpen reisen. In Haltern werden sich am Jahrestag die Schüler und Lehrer des Joseph-König-Gymnasiums an der Gedenktafel versammeln und weiße Rosen niederlegen. Ringsum läuten um 10.41 Uhr die Kirchenglocken, das Leben in der Stadt steht dann kurz still. So wie jedes Jahr am 24. März.
2 Kommentare
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KARMA
10 Jahre? Unglaublich - hätte nie gedacht, dass das schon so lange her ist. Und ja, tatsächlich, denke ich - vor allem wenn wir mal wieder irgendwo an einem Gate stehen - an diese schlimme Tradögie. Es ist bemerkenswert, dass diese Kerze am Gymnasium in Haltern immer brennt und dass man der Opfer gedenkt. So viele Menschen sterben durch Hunger und Kriege - beides wäre vermeidbar und auch diese Tragödie wäre womöglich vermeidbar gewesen. Aber Spekulationen helfen hier genauso wenig weiter wie über die Ursache des Freitodes eines Bekannten meines Sohnes kürzlich auf Mallorca nachzudenken. Er hat Gott sei Dank keine anderen Menschen mit in den Tod gerissen. Dennoch sehr sehr traurig, wenn jemand seinem Leben ein Ende setzt. Es bleibt nur, heute gedanklich bei den Angehörigen zu sein. Und auch wenn wir ihren Schmerz nicht einmal ansatzweise nachvollziehen können: unser aller Anteilnahme soll ihnen zumindest ein kleiner Trost sein!