Wer sich Orient nähert, dem fällt sofort die interessante Lage auf. | Ingo Thor

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Wäre es nicht wunderbar, wenn auf einmal das große Portal des Landgutes Cals Reis aufgehen würde und diejenigen, nach denen dieses angeblich benannt ist, heraustreten würden? Wenn sich Melchior, Balthasar und Caspar höchstselbst um Gottes Willen auf Mallorca blicken ließen? Darauf, dass genau das passiert, hofften zahllose Kinder verschiedenster Generationen, die in Dörfern wie Alaró oder mehr noch Bunyola aufwuchsen. Dort wurde ihnen in den vergangenen Jahrhunderten ein ums andere Mal in die Ohren geraunt, dass die Könige aus dem Morgenland in dem Anwesen im Weiler Orient wohnen. Und es wurde ihnen immer wieder ein prägnanter Satz eingeschärft: „Wenn ihr nicht brav seid, werden sie es erfahren....” Ähnlich geredet wurde in Santa Maria del Cami, wo es eine Casa del Rey (Haus des Königs) gab.

Papperlapapp! Weder wohnten die „Reyes Magos”, die Maria und Josef nach der Geburt Jesu Gold, Weihrauch und Myrrhe überreicht haben sollen, in dem in einem Tramuntana-Tal befindlichen stillen Flecken oder sonstwo auf Mallorca, noch züchtigten sie den ungezogenen Nachwuchs der Gegend. „In der ‚Possessió’ Cals Reis wohnte die Familie Cabot, die mit dem Spitznamen ,Reis’ (Könige) lebte”, so

Barbara Suau, eine mit der Geschichte der Gegend bestens vertraute Lokalhistorikerin, gegenüber MM. „Und die Bezeichnung Orient kommt wohl einfach daher, dass der Ort aus der Sicht der Menschen in der Muttergemeinde Bunyola im Osten lag.” Dass Orient etwas Magisches angedichtet wurde, dürfte nach Ansicht der Expertin auch mit einem anderen Ereignis zu tun haben: „Der legendäre Erobererkönig Jaume I. soll hier während des Feldzugs gegen die Mauren Anfang des 13. Jahrhunderts ein Lager aufgeschlagen haben, um die Feinde von der nahegelegenen Alaró-Burg zu vertreiben”, so Barbara Suau.

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Die Gasse unterhalb vom Kirchplatz ist besonders malerisch.
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Allein die Stille in dem Weiler und dem Tal hat in diesem wie wohl in jedem Winter um die Weihnachtstage etwas Entrücktes, ja Geheimnisvolles. Schreitet man wie der MM-Emissär durch die wenigen Gassen des Ortes, ist man versucht, leise zu sein. Nur die Vogelstimmen dringen ins Ohr. So gut wie kein Mensch ist auf der Straße, irgendwo in einem hinteren Winkel des Tals blöken Schafe. Die teils felsig-steilen Berghänge verstärken dieses bukolische Geräusch, das einen fürwahr gedanklich in weit zurückliegende Zeiten versetzt, als es keine Autos und sonstige Motorfahrzeuge gab, deren mal lautes und mal halblautes Rauschen bekanntlich die Städte fast permanent einlullt.

Orient ist der Ort vieler Schafe, vieler Vögel, weniger Autos und Motorräder und gerade mal 30 gemeldeter Menschen. Ein Ort der Stille auf der einstigen Insel der Stille. Nähert sich ein Fahrzeug, so hört man dieses in dem schlauchartigen Tal lange, bevor man es zu Gesicht bekommt. Nur in den Restaurants Ca’n Tomeu (hier gibt’s die Lammkeule für 21 und das Bergzicklein für 22 Euro) und dem Speiseareal des Hotels Nou Dalt Muntanya sind während der MM-Ortsbegehung leise Kochgeräusche und noch leisere Stimmen zu hören, die Terrassen mit den Stühlen und Tischen sind leergefegt. Die dem heiligen Georg – dem Schutzpatron der Ritter und der Soldaten, der Pfadfinder, der Fechter und Bogenschützen – gewidmete Kirche ist verrammelt. Allein auf dem Platz vor dem Gotteshaus schneidet eine ältere wortkarge Frau seelenruhig Pflanzen zurecht. Als der MM-Emissär sie anspricht, entfährt ihr fast rau und kehlig nur ein einzelner unverständlicher Satz auf Katalanisch, dann übernehmen akustisch wieder die Vögel und Schafe das Kommando.

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An religiösen und weihnachtlichen Symbolen fehlt es in Orient nicht.

Menschen, die Kraftpunkte suchen oder sonstwie abseits der lärmig-toxischen Zivilisation zur Ruhe kommen möchten, sind in und rund um den Gebirgsweiler goldrichtig. Orient liegt einsam in 500 Metern Höhe, steht unter Denkmalschutz und ist auf der Landstraße Ma-2100 über Bunyola oder Alaró zu erreichen. Unter uralten Bäumen auf einer der durchaus vorhandenen Bänke sitzend, fühlt man sich auch als nicht sonderlich esoterisch beleckter Zeitgenosse in einer Art anderen Dimension. Und wenn dann das Winterlicht schräg und mild alles ausleuchtet und den Schatten messerscharf, aber nicht grell, aufscheinen lässt, wird das kleine Separat-Universum noch fühlbarer. Wenn dann jetzt noch die Heiligen Drei Könige der schräg stehenden Sonne entgegenreiten würden, wäre das Gesamtkunstwerk komplett.