In den letzten Tagen denke ich vermehrt darüber nach, wo meine Grenzen sind, wo fange ich an, wo höre ich auf? Dass der Körper die äußere Begrenzung zu sein scheint, leuchtet mir noch ein, aber wo ist die Grenze für meine Gedanken, Gefühle, Bedürfnisse? Im religiösen und gesellschaftlichen Kontext, gibt es die Idee, dass die eigenen Bedürfnisse da enden, wo sie mit denen anderer Menschen in Berührung kommen. Aber stimmt das immer? Wann und wo sollte ich nachgeben, mich anpassen, Kompromisse schließen, und wo darf ich annehmen oder sogar erwarten, dass jemand (Partner, Kinder, Freunde, Kollegen, Chef oder der Nachbar) mir die gleiche Ehre zuteilwerden lässt?
Im Allgemeinen glaube ich, mich ganz gut abgrenzen zu können, aber manchmal habe ich da so meine Zweifel. Kannst Du nicht mal schnell ..? Ich möchte aber lieber … Das möchte ich heute nicht … Das ist doch für Dich ganz schnell gemacht …
Vielleicht kommt Ihnen der eine oder andere Satz bekannt vor. Einen guten Weg zu finden zwischen egoistischem Verhalten und Selbstaufgabe ist gar nicht so einfach. Normalerweise lernen wir in der frühen Kindheit (im Alter zwischen zwei und vier Jahren), dass es eine Welt außerhalb von uns gibt. Früher nannte man diese Zeit Trotzphase, heute wird sie allgemein lieber als Autonomiephase bezeichnet. Vor dieser Zeit waren unsere Grenzen noch verschwommen beziehungsweise für uns nicht wahrnehmbar. Und kaum sind sie da, gilt es auch schon, sie zu verteidigen. ICH will dies, auch wenn Du es auch willst. ICH will jetzt nicht essen, schlafen, nach Hause gehen, mich an- oder ausziehen. Die Liste ist endlos. Das Wort NEIN bekommt eine ganz besondere Bedeutung.
Ich könnte hier abbiegen und beginnen, Ihnen Tipps zu geben im Umgang mit Kindern in diesem Alter. Aber Erziehungsratgeber gibt es wahrlich schon genug. Bleiben wir lieber beim Thema Grenzen. Mit viel Glück lernen Kinder in dieser Zeit ganz natürlich zu unterscheiden zwischen den Grenzen, die wichtig sind, weil es zum Beispiel gefährlich wäre, sie zu überschreiten, wie „heißen Herd anfassen“ oder „einfach über die Straße rennen“, und denen, die durchaus dehnbar sind oder Diskussionspotential in sich tragen, „noch fünf Minuten länger aufbleiben“ oder „ich möchte nichts mehr (oder mehr davon) essen“. Sie erkennen immer deutlicher ihre Grenzen und lernen, sie zu verteidigen.
Wenn es nicht ganz so gut läuft, beginnen die Schwierigkeiten. Kinder lernen schnell, welche Konsequenzen ihr Handeln mit sich bringt und passen ihr Verhalten entsprechend an. Wenn sie also selten eigene Entscheidungen treffen dürfen, gewöhnen sich daran und werden mit der Zeit immer unsicherer. Sie lernen, dass die eigenen Grenzen im Wesentlichen von außen (Eltern, ältere Geschwister, andere Erwachsene) bestimmt werden, dass sie gefühlt keine Möglichkeit haben, eine Situation zu verändern oder zu verhindern. Dadurch können sie die Erwartung entwickeln, auch keine Kontrolle mehr über zukünftige Ereignisse zu haben. Dieses Verhalten nennt man „erlernte Hilflosigkeit“. In Fachkreisen gilt dies sogar als ein Erklärungsansatz für die Entstehung beziehungsweise Aufrechterhaltung einer Depression.
Eine andere herausfordernde Situation kann es sein, wenn Kinder in ihrer Familie pflegebedürftige Menschen erleben. Das kann ein (dauerhaft) krankes Geschwister- oder auch ein Elternteil sein, beispielsweise die Mutter, die häufig an Migräne leidet und Ruhe braucht. Auch hier ist die Fähigkeit des Kindes, die eigenen Grenzen zu erkennen, in Gefahr. Kinder spüren instinktiv, wo sie gebraucht werden, wo sie funktionieren müssen, um das Familiensystem am Laufen zu halten, und sie handeln entsprechend. Sind die Eltern durch ein krankes oder gar behindertes Kind voll in Anspruch genommen, passiert es oft, dass ein anderes Kind sich mit seinen Bedürfnissen extrem zurücknimmt, immer brav und angepasst ist und eher unauffällig mitläuft. Dieses Kind wird das Verhalten häufig auch bei anderen Gelegenheiten zeigen. In der Schule, in Freundschaften und Beziehungen, später am Arbeitsplatz. Oftmals werden diese Kinder zu den Kollegen, denen man immer noch eine Extra-Aufgabe übertragen kann, die scheinbar immer gerne noch eine Schicht übernehmen oder natürlich an beliebten Brückentagen arbeiten, damit andere Kollegen Urlaub nehmen können.
Es sind diese Freunde, die man zu jeder Tages- und Nachtzeit anrufen kann, weil man Unterstützung bei etwas braucht (das durchaus auch bis zum nächsten Tag hätte liegenbleiben können), die immer Zeit haben, die Kinder zu hüten oder den Hund zu nehmen, wenn man mal kurz über das Wochenende verreisen will. Diese Freunde, die einem nicht böse sind, auch wenn man zum wiederholten Male ganz kurzfristig eine Verabredung absagt, weil es gerade doch zu kalt, zu warm, zu nass oder einfach unpassend ist. Diese pflegeleichten Menschen, die scheinbar immer zufrieden sind und unkompliziert wirken.
Erkennen Sie sich oder einen lieben Menschen in dieser Beschreibung wieder? Keine Sorge, es gibt gute Nachrichten. Auch, wenn es für Erwachsene etwas mühsamer ist, ihr Verhalten zu verändern, es ist möglich. Wenn Sie jetzt einwenden: „Ich bin aber schon immer so gewesen. Wie soll ich das jetzt noch ändern?“, kann ich Ihnen folgendes sagen. Wir „sind“ nur ein geringer Prozentsatz von dem, was wir denken zu sein. Der Rest ist gelerntes Verhalten und kann demzufolge auch verändert werden.
Doch vor der Veränderung steht die Wahrnehmung. Die Wahrnehmung dessen, was mir Probleme macht, was ich ändern möchte. Wann und wo komme ich immer wieder in Situationen, in denen ich mich nicht abgrenzen kann, etwas oder jemandem zusage, obwohl in mir ein klares Nein zu spüren ist. Das herauszufinden und diese Momente zu erkennen, ist der erste Schritt. Dabei ist es wichtig, möglichst wohlwollend mit mir umzugehen. Schließlich ist das „alte“ Verhalten schon lange etabliert und hatte irgendwann mal einen guten Grund.
Als Nächstes können wir uns die Frage stellen, welches Verhalten uns heute sinnvoller und passender erscheinen würde. Wie kann ich es formulieren, dass ich diesen Brückentag freinehmen möchte, ohne den Kollegen zu brüskieren? Wie sage ich meinem Partner, dass ich lieber zu Hause bleiben möchte, als mitzugehen zu dem Grillabend? Wie sage ich meiner Freundin, dass ich heute nicht auf ihren Hund aufpassen kann, weil ich andere Pläne habe? Und das am besten noch, ohne ewige Erklärungen und Ausreden suchen zu müssen, sondern einfach nur, weil es mir gerade nicht recht ist. Ich wünsche Ihnen viel Erfolg und etwas Durchhaltevermögen, denn das wird es brauchen, bis Sie sich bald „Nein“ sagen hören und dabei wissen, dass dies bereits ein vollständiger Satz ist.
Talia Christa Oberbacher ist Hypnose-Therapeutin und Coach in der Palma Clinic.
(aus MM 4/2022)
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