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Estellencs Ende November: Wer das winzige Dorf an der Tramuntana-Küste aufsucht, findet derzeit kaum Menschen auf den Straßen vor. Das größte Hotel am Ort hat geschlossen, das Restaurant an der Durchfahrtstraße ist dicht, eine Cafeteria mit Meerblick-Terrasse ebenfalls. Und dennoch wartet das 350-Einwohner-Dorf mit Überraschungen auf. Etwa damit, dass es freie Parklücken gibt. Im Sommer, wenn Tausende Touristen in Mietwagen auf der Tramuntana-Magistrale Ma-10 unterwegs sind, müssen viele den Ort passieren ohne anzuhalten, weil nirgendwo eine Parkmöglichkeit zu haben ist.

"Urlauber sind willkommen, besonders im Winter. Im Sommer ist weiteres Wachstum unmöglich. Wir haben keine Stellplätze und keine zusätzlichen Unterkünfte als jene, die bereits vorhanden sind", sagt Bartomeu Jover Sánzchez, seit 20 Jahren Chef im Rathaus. Wie die uralten Ölbäume rund um das Dorf ist der Konservative tief verwurzelt mit der steinigen Scholle, die in einem schmalen Küstenstreifen steil in den Himmel strebt. Vom Null-Meter-Niveau des Meeresspiegels bis hinauf zum Gipfel des Galatzó, der mit seinen 1027 Metern eine geradezu alpine Höhe erreicht, sind nirgendwo sonst in den Ortschaften der Insel Meer und Berge so eng miteinander vereint wie in Estellencs.

Hier in diesem Dorf war Jover der Sohn des letzten Landwirts, der die schmalen Terrassen noch mit einem Maultier pflügte und die dort gezogenen Tomaten auf dem Pferderücken über die Berge nach Palma transportierte, um sie dort zu verkaufen. Jover selbst, drahtig und mit einem ledernen Cowboy-Hut auf der Ablage seines Dienstzimmers, besitzt selbst zwei Pferde, die auf dem Gelände seiner Finca den Wald von Unterholz freihalten. An Feiertagen ist er zu sehen, wie er in Tracht seinen Rappen durch den Ort führt. Da klingt es durchaus überzeugend, was auf der Internetseite des Rathauses zu lesen ist: "In Estellencs konzentrieren sich die Werte und die Landschaft des wahren Mallorca, jenes Mallorca, dass sich vom Massentourismus ferngehalten hat und die traditionellen Fertigkeiten zu bewahren wusste."

Vor exakt 40 Jahren erschien im Mallorca Magazin ein Artikel über die Probleme der Landflucht auf der Insel, insbesondere am Beispiel Estellencs'. Junge Einwohner würden wegziehen, weil es an Arbeit fehle. Auch gebe es in dem Dorf keine Schule, keinen Arzt, keine Apotheke und kaum öffentliche Transportverbindungen.

"Es stimmt. Wir haben an Einwohnerschaft verloren", sagt Jover. Lebten 1977 bis zu 600 Menschen in Estellencs, so seien es heute um die 350. Allerdings erhöht sich die Einwohnerzahl in den Sommermonaten auf 700, wenn Urlauber und Zweithausbesitzer dort die heiße Jahreszeit verbringen. Alle anderen aufgezählten Minuspunkte von damals haben sich nach Jovers Worten beheben lassen.

So gebe es im Ort einen Kindergarten und eine Grundschule. Und die Mittelschüler müssen nicht mehr wie früher bis nach Palma fahren, sondern werden in Esporles aufgenommen. Es gibt einen kostenlosen Schulbus. Auch eine Apotheke ist seit über 20 Jahren wieder im Dorf zu finden, ebenso ein Arzt, der tagsüber Kranke betreut. Anders als früher, als es nur ein bis zwei Busverbindungen pro Woche gab, werde das Dorf nun drei- bis viermal am Tag angefahren. "Alles ist viel besser geworden", resümiert der Bürgermeister. Einzig die Bevölkerung sei geschrumpft. "Ich wünschte mir, es würde hier mehr junge Familien mit Kindern geben."

Beim Gang durch den Ort fällt auf, wie liebevoll gepflegt Estellencs sich präsentiert. Die alten Gassen im Kernort rund um die Kirche sind mit Natursteinen gepflastert, neben dem hellen Kalkstein ist an vielen Stellen der rote Buntsandstein zu sehen, dessen Felsen den Küstenstreifen stellenweise rot bis lila aufleuchten lassen. Vor den Häusern sind Blumentöpfe und Grünpflanzen platziert, die Bar Sa Tanca wirkt in dem Ensemble wie das offene Wohnzimmer der Nachbarn.

Direkt gegenüber des Lokals hat Tomeu Isern seine Bodega. Dem 62-Jährigen ist es zu verdanken, dass viele der einst verwilderten Anbauflächen wieder gepflegt und mit Wein bewachsen sind. Isern ist einer jener Winzer, die der heimischen Tramuntana-Rebsorte Malvasía, die nahezu verschwunden war, zu einer Renaissance verhalfen. Er baut die Weißweinsorte seit 1998 an, viele Dorfbewohner stellen ihm ihre ungenutzten Terrassen zu Verfügung und erhalten jedes Jahr als Miete einige Flaschen des bernsteinfarbenen Weins.

Leben vom Weinbau kann Isern nicht. Darum betreibt er mit seiner Frau ein kleines Landhotel mit sechs Schlafplätzen. "Früher war ich technischer Zeichner. Heute bin ich Winzer, Hotelier, Rezeptionist, Koch und Kellner in einem", sagt der Palmesaner, den es vor 40 Jahren aus der Großstadt ins ruhige Estellencs zog. "Das ist für mich der schönste Ort auf der ganzen Welt."

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Nicht nur Mallorquiner sehen das so. Unter der Handvoll Ausländer, die ganzjährig in dem Dorf leben, ist Jan Heekers aufzuzählen. Der Deutsche, geboren 1941 in Berlin, lernte den Ort über seinen Vater kennen. Der Bildhauer hatte sich 1971 dort niedergelassen, für ihn war es Liebe auf den ersten Blick. "Die Berge und die See, da sagte mein Vater, das ist das Allgäu im Mittelmeer."

Als der Vater auf Hilfe angewiesen war, zog Jan Heekers auf die Insel. Der Keramikkünstler und Musiker widmete sich fortan dem vollkommen verwilderten Anwesen Can Madena, befreite die Oliven-, Mandel- und Johannisbrotbäume von dornigem Wildwuchs und presste sein eigenes Olivenöl. Für den Deutschen, der einst bis nach Tibet reiste, ist Estellencs ein "grandioser Ort". Neben der Landschaft ist es die "Freundschaft mit all meinen Nachbarn", die Heekers in dem Bergdorf hat heimisch werden lassen. Schon früh hatte er Mallorquín-Sprachkurse besucht, heute parliert er in dem Inselidiom so flüssig wie in der eigenen Muttersprache. Spanisch fällt ihm, wie er sagt, weniger leicht.

Vom Dorf aus öffnet sich der blaue Ausschnitt des Meeres v-förmig gen Westen, wo abends die Sonne untergeht. Es sind zwei winzige Landstraßen, die bis an die Cala Estellencs hinabführen, einer kleinen Bucht mit Kiesstrand. Jetzt im Winter hat die Strandbar geschlossen, und so haben Besucher das gesamte Areal für sich alleine. Dort, wo die traditionellen Bootsschuppen, die "Escars" an die Felsen gebaut sind, hatte vor 30 Jahren ein moderner Yachthafen entstehen sollen, mit Platz für 40 Boote von bis zu acht Meter Länge.

Damals klagte die Naturschutzorganisation GOB gegen das Vorhaben. Das Gesetz war auf ihrer Seite. Die Küste steht sowohl unter Natur- als auch unter Landschaftsschutz und ist als "singulärer" Bereich obendrein per Kategorie "malerische Landschaft" geschützt. Das Bauvorhaben wurde gestoppt. Statt einer 70 Meter langen Mole und zehn Meter hohen Schutzmauern wurde lediglich ein Wall aus Natursteinen aufgehäuft. Schutz vor den Winterstürmen bietet er hingegen kaum. "Das Meer holt sich, was ihm gehört", sagt Bürgermeister Jover. Wenn die Sturmwogen branden, bringen sie selbst größte Steine ins Rollen. "Ich habe dort schon vier Boote verloren."

Zurück im Dorf zum winzigen Laden, der als Supermarkt dient. Octavio López hat im Winter nicht viel Stress. "Brot verkaufen wir jeden Tag." Im Sommer erwerben die Touristen auch Wein und Öl aus lokaler Produktion. Die Behäbigkeit in dem Dorf ist für den gebürtigen Uruguayer, der als Kind nach Estellencs kam, ambivalent. "Manchmal denke ich, ich sollte nach England auswandern. Aber wenn ich in Spanien bleibe, dann nur hier."

Die Apothekerin gegenüber pendelt täglich von Palma nach Estellencs. "Ich habe Kinder und bin ein Stadtmensch. Aber später kann ich mir schon vorstellen, in den Sommermonaten ganz nach Estellencs zu ziehen", sagt sie.

Nebenan hat der Künstler Mariano Navares sein Atelier. Drei seiner Metallskulpturen zieren das Ortsbild, unter anderem ein expressionistisches Maultier aus ausgedienten Motorblöcken, eine Hommage an jene Huftiere, die einst das Dorf als Transportmittel mit der Außenwelt verbanden. Vor über 20 Jahren ließ sich Navares in Estellencs nieder. Auch er will diesen Platz mit keinem anderen der Welt tauschen.

Die letzte Überraschung in dem abgelegenen Ort, der einzig über die kurvenreichen Landstraße von Andratx oder oder über Esporles und Banyalbufar zu erreichen ist: Es gibt über dem neuen Tageszentrum für Senioren eine Leihbibliothek, und wenn man die Türe öffnet, blickt man in die strahlend blauen Augen von Angelika Dressen. Die Deutsche ist mit ihren Kindern vor zwei Jahren in das Dorf gezogen, um ihnen ein Leben auf dem Land zu bieten. Die Rechtsanwältin aus München kümmert sich um den öffentlichen WLAN-Hotspot des Dorfes, arbeitet in einer spanischen Kanzlei mit und organisiert Spielgruppen für die Kinder in dem Dorf.

"Wir wollten auf Mallorca, aber weit weg vom Massentourismus leben", sagt Dressen. Nun, authentische Dörfer mit gesundem Landleben gibt es auch im Inselinnern, und das bei einer deutlich weniger kurbelintensiven Wegstrecke. "Das stimmt", räumt Dressen ein. Dann verweist auf das Panorama: "Aber hier", betont sie, "gibt es obendrein Berge und Meer. Wenn schon, denn schon ..."

(aus MM 48/2017)