Bescuh auf Mallorca: Der 85-jährige Journalist Peter Michael Lingens. | Martin Breuninger
Mallorca Magazin: Herr Lingens, Ihre Eltern versteckten im Dritten Reich Juden und halfen ihnen, zu fliehen. Dann wurden sie verraten. Ihr Vater kam ins Strafbataillon in die Sowjetunion, ihre Mutter ins KZ in Auschwitz. Sie waren damals ein kleines Kind. Können Sie sich daran erinnern?
Peter Michael Lingens:Ich kann mich an die Verhaftung der Eltern erinnern. Allerdings ist das keine schreckliche Erinnerung. Sondern da kam ein eindrucksvoller Mercedes, möglicherweise sogar zwei, und ich saß neben einem Mann, der mit Sicherheit ein SS-Mann war und mir seinen Revolver zeigte. Das hat mich als Zweieinhalbjährigen ungeheuer beeindruckt. Man lieferte mich bei den Schwestern meiner Mutter ab. Dann setzt bei mir das Gedächtnis aus. Es beginnt erst wieder, als ich vier Jahre bin. Ich hatte eine Gouvernante, die mich zu sich genommen hatte. Ich entging dem Krieg in einer winzigen Ortschaft in Kärnten. Ich hatte halt keine Eltern, aber Gott sei Dank liebte mich meine Gouvernante sehr. Das wurde ein Problem, als meine Mutter zurückkam, weil ich sie nicht mehr kannte und meine Gouvernante als Mutter empfand.
MM: Und Ihr Vater?
Lingens:Mein Vater hatte das Glück, dass er einen Lungendurchschuss erlitten hatte. Er wurde mit einem der letzten Züge aus Russland nach Österreich transportiert. Dadurch kam er nicht nach Stalingrad. Mein Vater hatte geglaubt, dass meine Mutter in Auschwitz gestorben war, weil sie einen Brief nicht beantwortet hatte. Als meine Mutter zurückkam, lebte er mit einer Krankenschwester. Meine Mutter kam aus Auschwitz, läutete an der Tür, und er hat sie nicht hereingelassen. Ab diesem Moment war sie am Boden zerstört und hat nie mehr zu einer vernünftigen Beziehung gefunden.
MM: Wie hat das Ihr politisches Weltbild geprägt?
Lingens:Der Nationalsozialismus hat unser Leben, das wir davor hatten, zerstört. Dadurch war ich zwangsläufig gegen diese Art von Gedankengut gefeit. Meine Mutter war eine sehr analytische Person. Ihr war sehr früh klar gewesen, dass die NSDAP eine erfolgreiche Partei sein und dass Hitler einen Weltkrieg beginnen würde. Zu diesem Wissen gehörte auch, dass er diesen Erfolg nicht gehabt hätte, wenn es diese irrsinnige Arbeitslosigkeit nicht gegeben hätte. Und es macht mich krank, dass die EU nicht begreift, dass es einen engen Zusammenhang zwischen der Rechtsverschiebung gibt und der immer größeren Differenz im Wohlergehen zwischen einer immer kleineren Gruppe von irrsinnig reichen Leuten und einer immer größeren Gruppe, an deren unteren Rand die Menschen sogar Wohlstand verlieren und dann bereit sind, FPÖ oder eben VOX zu wählen.
MM: Sie waren in jüngeren Jahren Ghostwriter und Privatsekretär von Simon Wiesenthal, der oft als „Nazijäger” bezeichnet wurde. Auch als erster Chefredakteur des „Profil” haben Sie mit ihm zusammengearbeitet. Was war er für ein Mensch?
Lingens:Simon Wiesenthal war das absolute Gegenteil dessen, was man sich unter ihm vorstellte. Er war überhaupt nicht rachsüchtig, er war ein Gerechtigkeitsfanatiker. Er war unglaublich liebenswert und fürsorglich. Alle Angestellten liebten ihn. Er war auch unendlich korrekt. Also, die berühmten Vorwürfe Bruno Kreiskys, er betreibe Privatjustiz, waren völlig verrückt. Es gab keine Eingabe Wiesenthals, die nicht in Kopie an das Justizministerium ging.
MM: Warum war Österreichs damaliger Bundeskanzler Kreisky so schlecht auf Wiesenthal zu sprechen?
Lingens:Ich glaube, wenn man mit diesem ständigen Antisemitismus in Österreich konfrontiert ist, hat man als Jude zwei Möglichkeiten. Entweder man versucht, sich total zu assimilieren, oder man lebt in der jüdischen Gemeinschaft. Kreisky hat die totale Assimilation versucht, und dazu gehörte ein bisschen, ein Antisemit zu sein. Er machte Äußerungen wie: „Wenn die Juden a Volk san, dann san sie a mieses Volk.” Für ihn war Wiesenthal sozusagen der abschreckende Ostjude, mit dem er nicht identifiziert werden wollte.
MM: Sie selbst wurden verurteilt, weil Sie 1975 gegenüber Kreisky für Wiesenthal eingetreten sind.
Lingens:Das ist auch ein Problem, weil ich als Kreisky-Feind bekannt geworden bin, was ich nie war. Ich habe Kreisky gewählt und hielt vieles von dem, was er in Österreich getan hat, für sehr sinnvoll. Er ist meiner Meinung nach aber auch hauptverantwortlich dafür, dass es die Freiheitliche Partei noch gibt.
MM: Wie das?
Lingens:Die Freiheitliche Partei war ursprünglich ein reines Nazi-Sammelbecken. Nach einem ersten Erfolg mit 16 Mandaten war es fraglich, ob sie die Fünf-Prozent-Hürde, die es damals noch gab, überspringen würde. Die Wähler wandten sich von ihr ab, weil sie weder Posten noch Wohnungen zu vergeben hatte, denn die anderen Parteien konnten das damals. Erst durch Kreisky, der 1970 die Chance gesehen hatte, mit ihrer Hilfe an die Regierung zu kommen, waren die Freiheitlichen plötzlich wieder relevant. Dafür, dass sie seine erste Regierung duldeten, machte er eine Wahlrechtsreform, die es ihnen erleichterte, Mandate zu bekommen. Es ist sehr fraglich, ob die Freiheitlichen ohne ihn überhaupt noch einmal ins Parlament gekommen wären. Das Zweite war: Es gab einen Cordon sanitaire, der darin bestand, sich nicht mit wirklichen Nationalsozialisten zu verbünden. Das hat Kreisky auch durchbrochen. In seiner ersten Regierung waren vier ehemalige Nationalsozialisten Minister, darunter ein SS-Mann.
MM: Wieso ging Kreisky juristisch auf Sie los?
Lingens:Der polnische Geheimdienst hatte Dokumente gefälscht, in denen behauptet wurde, Simon Wiesenthal hätte mit Nationalsozialisten kollaboriert. Diese Fälschungen haben die Polen dem damaligen österreichischen Innenminister Otto Rösch, einem ehemaligen Nationalsozialisten, in die Hand gedrückt. Und der hat sie Bruno Kreisky gegeben, der Simon Wiesenthal dann öffentlich verdächtigte. Der deutsche Staatsanwalt Rolf Sichting, der die Wiesenthal-Akte in Deutschland geführt hatte, sagte mir damals: „Sie können mich zitieren: Was Kreisky da getan hat, ist infam.” Ich schrieb, der Vorwurf, Wiesenthal sei ein Kollaborateur gewesen, sei „ungeheuerlich und opportunistisch”, und wurde dann in Österreich wegen Ehrenbeleidigung bis in die letzte Instanz verurteilt. Zehn Jahre später hob der EuGH das Urteil auf.
MM: Sie hatten ein weiteres Mal mit der Justiz zu tun. Worum ging es da?
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Lingens:Das ist eine komplizierte Geschichte. Ich habe einen Sohn, um den ich immer große Sorgen hatte. Dann fand er eine Frau, und ihm geht es jetzt sehr gut. Damals hatte die extrem reiche Ehefrau eines Russlandkaufmanns, Walentina Hummelbrunner, in einem Wiener Palais einen Kosmetiksalon aufgemacht. Die damalige Braut meines Sohnes bewarb sich um die Führung des Salons und wurde von der Geschäftsführerin auch als besonders geeignet angesehen. Der Ordnung halber erwähnte sie am Schluss, dass sie eine Allergie habe. Die Geschäftsführerin sagte: „Dann geht das nicht.” Die Braut meines Sohnes und er waren am Boden zerstört. Daraufhin rief ich Frau Hummelbrunner an und erklärte ihr die Situation, und sie revidierte tatsächlich die Entscheidung ihrer Geschäftsführerin. Ich wusste aus meinem Beruf, dass man Geschäftsführerentscheidungen nur äußerst selten rückgängig macht. Daher war ich Frau Hummelbrunner sehr dankbar.
MM: Wie kamen Sie dann mit dem Gesetz in Konflikt?
Lingens:Es gab eine Anklage gegen Frau Hummelbrunner wegen Geschäften in der Sowjetunion, die angeblich nicht in Ordnung waren. Sie wurde am Ende freigesprochen. Aber zur damaligen Zeit, das gebe ich ehrlich zu, hatte ich ungute Geschäfte für möglich gehalten. Jetzt kannte ich jemand, der dem Rotlichtmilieu zugezählt wurde und den Staatsanwalt kannte, der den Fall behandelte. Ich fragte ihn, und das war natürlich unkorrekt, ob er bei dem Staatsanwalt ein gutes Wort für Frau Hummelbrunner einlegen könnte. Mir war als Gerichtsberichterstatter klar, dass viele Verfahren im Zweifel so oder so entschieden werden können. Das wurde dann als Anstiftung zum Amtsmissbrauch angeklagt.
MM: Wie kam es überhaupt zu der Anklage?
Lingens:Dieser Rotlichtmensch bot Frau Hummelbrunner an, ihr gegen Geld zu helfen. Er wurde festgenommen und zu Recht angeklagt. Ich hatte der Staatsanwaltschaft im „Profil” jahrelang vorgeworfen, dass sie alle Strafverfahren, in die die Regierungspartei verwickelt war, ohne vernünftige Begründung eingestellt hatte – ich konnte mich also schlecht beschweren, dass sie ein Verfahren gegen mich eröffnete, wo es immerhin Indizien einer Straftat gab. Die Anklage sagte, ich hätte diesen Mann angestiftet, um Geld zurückzubekommen, das er mir tatsächlich schuldete. In Wirklichkeit hatte ich ihm zu dem Zeitpunkt aber noch einmal Geld gegeben, weil ich überhaupt nicht befürchtet hatte, dass er mir das Geld nicht zurückgibt. Insofern war die Anklage unsinnig.
MM: Wie ging das Verfahren aus?
Lingens:Der Richter, der einem Verein zur Wahrung des deutschen Liedguts vorstand und für die Wiedereinführung der Todesstrafe eintrat, sagte meinem Anwalt: „Ich verurteile den Herrn Lingens auf jeden Fall, ich weiß nur noch nicht, nach welchem Paragrafen.” In seinem Urteil stand, der Herr Lingens habe alles getan, was die Anklage ihm vorwirft, aber er sei freizusprechen. Deshalb konnte der Oberste Gerichtshof gar nicht anders, als den Freispruch aufzuheben. Ich wurde ein zweites Mal vor Gericht gestellt und wieder freigesprochen, weil sich wieder herausgestellt hatte, dass in der Anklage Unfug stand. Nach diesem Erlebnis hatte ich zum ersten Mal einen Herzinfarkt.
MM: Und es hat Sie 1994 Ihren Chefredakteursposten beim „Standard” gekostet.
Lingens:Ich hatte den Posten sofort niedergelegt, als das passierte. Ich dachte nicht, dass ich im Journalismus je wieder Fuß fasse. Nach dem Freispruch lud mich Professor Maximilian Gottschlich als Lehrer für Journalismus an die Donau-Universität Krems ein, und der konservative Chefredakteur der „Presse” bot mir an, eine Kolumne zu schreiben. Das war die Rückkehr. Ich gab dann diesen Posten auf, um Kommentare für „Profil” zu schreiben, und wechselte von dort zum „Falter”, der die bessere Wochenzeitung war. Für ihn schreibe ich immer noch jede Woche einen wirtschaftspolitischen Kommentar.
MM: Was haben Sie nach Ihrem Freispruch empfunden?
Lingens:Ich hatte das Gefühl, ich trage einen Sträflingsanzug. Im Urlaub in Kroatien saßen in einem Restaurant mit dem Rücken zu uns Österreicher und unterhielten sich über meinen Fall. Eine Frau fragte einen Mann: „Was hat der Lingens eigentlich gemacht?” Daraufhin sagte der Mann: „A Russin hat er abstieren (ausnehmen; Anm. d. Red.) wollen.” Da beschloss ich, Österreich zu verlassen. Wir siedelten 2001 nach Spanien über und ich lebte dort eigentlich vom Renovieren und Verkauf von Häusern. So sind wir zu einem Zweitwohnsitz in Spanien gekommen.
MM: 2007 sind Sie wieder nach Wien gezogen und sind bis heute journalistisch tätig. Wie sehen Sie mit all Ihrer Erfahrung die heutige Zeit?
Lingens:Sie macht mir entschieden Sorgen. In erster Linie Amerika. Der Sieg Trumps ist erschreckend, für die Ukraine und für Amerika, das, glaube ich, aufhört, ein Rechtsstaat zu sein. In Österreich macht mir der Umstand beträchtliche Sorgen, dass eine wirklich rechtsextreme Partei die stärkste Partei des Landes geworden ist. Und natürlich ist in ganz Europa der Fortschritt der rechten Parteien besorgniserregend.
MM: Wie erklären Sie sich das Erstarken der rechten Parteien überall?
Lingens:In Europa erzeugen meiner Meinung nach zwei Phänomene einen großen Ruck nach rechts. Das eine Phänomen ist die Sparpolitik. Sie geht vor allem zu Lasten der Unterschicht, aus der sich die rechten Parteien rekrutieren. Das zweite Phänomen ist die Lohnzurückhaltung, die in Deutschland geübt wird. Sie hat dazu geführt, dass deutsche Unternehmen anderen Ländern enorme Marktanteile weggenommen haben. Dazu kommt das Migrationsproblem, das wiederum am meisten die Unterschicht betrifft. Denn Zuwanderer bedeuten Lohndruck, Konkurrenz um Sozialleistungen und billige medizinische Versorgung, und sie bedeuten Probleme für das öffentliche Schulwesen. In manchen Schulklassen in Österreich sind nurmehr zwei Kinder mit Deutsch als Muttersprache. Das gesamte Lernniveau wird dadurch gedrückt. In der Oberklasse gehen die Kinder dann in Privatschulen, in der Unterklasse können sie das nicht. Das heißt, es geht wieder zu Lasten der wirtschaftlich in Probleme geratenen Gruppe.
MM: Sie haben die Überlegung geäußert, dass die Rechten eigentlich regieren müssten, um sich selber zu entzaubern. Andererseits droht dann eine Umwandlung der Demokratie in einen illiberalen Staat.
Lingens:Das ist in der jetzigen Situation auch meine Sorge. Ich habe das Gefühl, Österreich steht vor einer sehr schwierigen wirtschaftlichen Situation. Wir hatten zuletzt zu hohe Lohnabschlüsse, weil wiederum die Wirtschaft nicht genügend verstanden wurde. Dazu hat die EZB die Zinsen erhöht. Das zweite Problem ist die ebenso dumme Politik der Europäischen Union, die Länder, die zu hohe Budgetdefizite haben, zu bestrafen und zu sagen: Ihr müsst sparen! Dadurch werden sie noch höhere Budgetdefizite haben, weil die Wirtschaft schlechter läuft, wenn man spart. Diese schwierige Situation hätte ich gerne der FPÖ überlassen. Die andere Überlegung war aber: Wenn sie fünf Jahre Zeit haben, dann können sie wie der Orban den Staat umgestalten, und das Risiko ist, dass wir nachher in einem entsetzlichen Land leben. Und ich bin nicht schlüssig geworden, was ich für die bessere Situation halte.
Das Buch „Zeitzeuge eines Jahrhunderts. Eine Familiengeschichte zwischen Adolf Hitler, Bruno Kreisky, Donald Trump und Wladimir Putin” von Peter Michael Lingens ist 2023 beim Böhlau-Verlag erschienen. Lingens Blog: www.lingens.online
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