Abendstimmung auf Cabrera: Die winzige Siedlung mit der Hafenmole am Fuße des Festungsberges erscheint Freunden der Insel geradezu magisch. | Alexander Sepasgosarian
Wer je als Ausflügler nach Cabrera gefahren oder gesegelt ist, vergisst diese Eindrücke nicht: Die winzige Felseninsel im Süden vor Mallorcas Küste, das trutzige Kastell auf schmalem Berggrat über dem blauen Wasser, die enge Einfahrt in die Bucht, die sich unter dem ebenso blauen Himmel allmählich zu einer Rundung weitet, die teils von steilen Bergen umschlossen ist. Dann die steinerne Hafenmole mit den wenigen Gebäuden dahinter, die winzige Inselsiedlung der weißen Häuschen unterhalb der Festung – und alles ist wie gebadet im gleißenden Sonnenlicht des Südens …
Cabrera ist ein Naturparadies und das Zentrum des größten spanischen Meeres-Nationalparks. Doch Cabrera ist auch steinige Historie, eine blutige allzumal. Das Eiland wurde von Literaten wiederholt als das erste Konzentrationslager der Menschheit bezeichnet, nachdem einst bis zu 9000 französische Kriegsgefangene nach der Niederlage Napoleons in Andalusien dort jahrelang vor sich hin vegetieren mussten, bei unzureichender Versorgung mit Lebensmitteln und Trinkwasser. Als die Männer nach fünf Jahren das Eiland 1814 wieder verlassen durften, waren von ihnen nurmehr 3600 übriggeblieben. Die anderen waren an Krankheiten und Entbehrungen in sengender Sommerglut und beißender Winterkälte entkräftet zugrunde gegangen, wenn sie nicht rasch und schlicht verhungert waren.
Cabrera erscheint Urlaubern heute als vollendeter mediterraner Traum inmitten kristallklarer Gewässer, und ist doch für viele Menschen zugleich die Hölle gewesen. Nicht nur für die Kriegsgefangenen des 19. Jahrhunderts, sondern auch für eine kleine Anzahl seiner aus Mallorca stammenden Bewohner, die sich dort im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts niedergelassen hatten. Für sie war es das herrlichste Stück Erde auf der Welt gewesen, bis der Spanische Bürgerkrieg über sie hereinbrach, Tod und Verdammnis mit sich brachte und den Insulanern „den bittersten Sommer ihres Lebens” bescherte, wie es der Forscher Juan José Negreira in seinem jüngsten Buch in Worte fasst.
Mitte November hat der Historiker sein Werk „Der Bürgerkrieg auf Cabrera. Ein mediterraner Mikrokosmos des Dramas” (so der frei ins Deutsche übersetzte Titel) in der Bibliothek Can Sales in Palma vorgestellt. Es ist nicht das erste über das Eiland und seiner Bewohner erschienene Buch, doch im Vergleich zu anderen Veröffentlichungen hat Negreira erstmals in den Gerichtsarchiven auf Menorca alte Prozessakten einsehen und zahlreiche neue Details aus dem Dunkel der Geschichte ans Tageslicht befördern können. Die menschlichen Abgründe, die sich im Verlauf der Begebenheiten jener Zeit auftun, sind weitaus tiefer und zugleich noch anschaulicher in Worte gefasst, als dies bislang bekannt war.
Es ist der 1. August 1936: Die beiden jungen Männer wollen von ihrer Jolle aus gerade nach der im Meerwasser treibenden Ziege greifen, als neben ihnen das an der Wasseroberfläche fahrende U-Boot an sie heranrauscht. Damit wurde auch für Jerónimo und Antonio Bonet der Krieg, der vor zwei Wochen auf dem spanischen Festland ausgebrochen war, von einer unscheinbaren Angelegenheit in der Ferne zu einer fatalen Wirklichkeit vor Ort, die großes menschliches Leid über „die von Cabrera” bringen sollte, wie die Insulaner von Auswärtigen genannt wurden. Die beiden Brüder waren zwei jener Bewohner der Felseninsel. Neben ihnen und einer winzigen Garnison mit knapp zwei Dutzend Militärs sowie zwei Leuchtturmwärtern lebten unmittelbar vor Ausbruch des Spanischen Bürgerkrieges 19 Zivilisten auf dem kargen Eiland. Es handelte sich um drei Familien, in der Regel Eheleute, mit ihren jeweils vier bis fünf Kindern, die vom Säugling bis zum 26-jährigen Erwachsenen alle Altersklassen aufwiesen.
Die Familie Suñer war seit etwa 1920 Pächter der Insel. Fünf Jahre zuvor hatte das spanische Militär mitten im Ersten Weltkrieg Cabrera besetzt, nachdem dort deutsche U-Boote bei Nacht und Nebel mit Proviant versorgt worden waren. Die Regierung in Madrid entschädigte die Eigentümer der Insel, die Familie Feliu, mit rund 360.000 Pesetas –nur etwa die Hälfte der Summe, die die Felius gefordert hatten.
Nach dem Weltkrieg suchte das spanische Militär per Ausschreibung einen Pächter, der Cabrera landwirtschaftlich betreuen und auch die Kantine in der Kommandantur, dem Hauptgebäude an der kleinen Hafenmole, führen sollte. Damián Suñer aus Manacor erhielt schließlich den Zuschlag und zog mit seiner Frau und den Kindern auf das Eiland. Bald schon folgten ihnen zwei weitere Familien nach. Teresa Jaume aus Colònia de Sant Jordi, Mutter von vier Kindern, arbeitete als Hausangestellte bei den Suñers. In das Haus am Strand der Bucht zog unterdessen die Familie Bonet aus Santanyí ein. Sie waren Unterpächter bei den Suñers und kümmerten sich als Landwirte um die Felder und Weideflächen des Eilandes.
Schon um 1890 hatten die Felius versucht, eine kleine Siedlerkolonie zu gründen und auf Cabrera Wein anzubauen. Sie errichteten das Hauptanwesen bei der Quelle und den Weinkeller, der heute das Museum der Insel beheimatet. Doch entgegen ihrer Rechnung erholte sich Frankreich damals rasch von der Reblausplage, die Preise für Traubenmost auf den Balearen fielen ins Bodenlose. So mussten sich die Felius bei mäßigem Erfolg mit dem Anbau von Getreide abplagen.
Als die Suñers und Bonets schließlich die Landwirtschaft übernehmen, gibt es auf dem Eiland viel dürre Mastixwälder sowie Schafzucht, Gemüse- und Weizenanbau. 1935 gelingt es den Insulanern sogar, einen Schulunterricht für die Kinder zu organisieren und eine Lehrerin anzustellen. Alle zwei Wochen zelebriert darüber hinaus der Pfarrer aus Campos einen Gottesdienst in der kleinen Kapelle, zweimal die Woche macht das winzige Dampfschiff „Ciudad de Alcúdia” an der Hafenmole fest. Es bringt Post und Lebensmittel, samt frischen Soldaten, die ihre Kameraden im Dienst ablösen. Und hin und wieder treffen sogar britische Touristen ein: Lady Sheppard verfasst 1936 einen Bericht über Cabrera, lobt die saubere Bettwäsche im Gästehaus der Suñers und die guten Liköre, die ihr der Hausherr Don Damián in der Kantine serviert.
In dieser Idylle wird der Ausbruch des Spanischen Bürgerkrieges, die Erhebung des Militärs unter einer Handvoll Generälen am 18. Juli 1936, ohne große Reaktion zur Kenntnis genommen. Der Zusammenhalt der Zivilisten und der kleinen Garnison auf Cabrera ist eng. Und da die Vorgesetzten auf Mallorca am 19. Juli ohnehin ins Lager der Aufständischen schwenken, ist die politische Situation auf Cabrera eindeutig: Die Autorität des Militärs steht außer Frage.
Anders sieht die Lage auf Menorca aus. Dort entwaffnen die niedrigen Dienstgrade ihre Generäle und Offiziere und setzten sie fest. Die kleinere Baleareninsel steht fest zur Regierung der spanischen Republik in Madrid. Auf Mallorca hingegen hat das aufständische Militär die Macht an sich gerissen und fest im Griff.
Von Barcelona und Menorca aus steigen darum Wasserflugzeuge zu Kampfeinsätzen gegen Mallorca auf. Am 30. Juli muss eines von zwei Dornier-Hidros, die zuvor Bomben auf Palma abgeworfen hatten, nach einem erhaltenen Treffer durch eine Küstenbatterie wegen Motorschadens bei Cabrera in der dortigen Cala Gandulf notwassern. Die Soldaten auf der Felseninsel sowie der älteste Suñer-Sohn Juan suchen nach der Mannschaft des Wasserflugzeugs. Sie stoßen auf sechs Männer, die sich in einer Höhle versteckt haben, und nehmen sie mit Waffengewalt gefangen.
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Unterdessen werden auf dem Eiland die Lebensmittelvorräte knapp. Die „Ciudad de Alcúdia” läuft die Insel seit Tagen nicht mehr an. Der Kommandant auf Cabrera bläst zur Jagd auf die wilden Ziegen, um die Fleischvorräte aufzustocken. Juan Suñer, der eine Pistole besitzt, schießt auf eines der Tiere. Es springt vor ihnen am Kap Enciola, wo sich der Leuchtturm befindet, mit einem zweiten Tier die Klippen hinab und stürzt getroffen ins Meer.
Als die beiden Bonet-Söhne mit ihrem Ruderboot nach dem Zicklein suchen, werden sie just von dem U-Boot gesichtet und aufgebracht. Jerónimo Bonet wird gewaltsam an Bord geschafft und verhört. Das aus Menorca herbeigeeilte U-Boot soll nach der Besatzung des Wasserflugzeugs suchen und sie gegebenenfalls befreien. Es fährt in die Cala Gandulf ein und nimmt dort die Telegrafenstation unter Feuer. Das Gebäude wird zerstört, die Funkverbindung von Cabrera nach Palma bricht ab.
In der Zwischenzeit landen ein zweites U-Boot und eine Barkasse in der Hafenbucht von Cabrera. Die rund 20 Soldaten der Insel und ihr Kommandant Facundo Flores verzichten auf Widerstand und ergeben sich. Angesichts der rund 100 Mann aus Menorca sehen sie gegen diese Übermacht keine Chance.
Unter Rufen wie „Es lebe die Republik”, „Es lebe der Kommunismus” wird Cabrera von den „Faschisten”gesäubert. So sehen es zumindest die Truppen aus Menorca. Die Flieger werden befreit, die Soldaten der Insel hingegen gefangengenommen und an Bord der Barkasse gebracht. In einem der U-Boote werden zudem der Kommandant Flores, ein weiterer Veteran, der auf Cabrera urlaubte, sowie die Männer der Familie Suñer nach Menorca geschafft. Dort erwartet den 50-jährigen Damián sowie seine beiden Söhne Juan (19) und Gaspar (17) ein Martyrium. Sie werden gleich nach der Ankunft in Mahón in eine Kaserne gebracht und dort von einigen Unteroffizieren, die eigenmächtig das Kommando an sich gerissen haben, geschlagen, misshandelt und dann mitten in der Nacht zum 2. August an der Straße nach La Mola erst halbtot geprügelt und danach erschossen. Auch der alte Militär im Ruhestand, Mariano Ferrer Bravo, der ebenfalls Zivil getragen hatte, kommt dort gewaltsam zu Tode.
Mit ein Auslöser für den Blutrausch der Soldaten könnte gewesen sein, dass der junge Juan Suñer (und dies zum Missfallen seines Vaters) Mitglied der rechtsextremen Partei Falange ist. Da er sich bei der Festnahme der Flieger auf Cabrera besonders hervorgetan hatte, könnte dieser Umstand dann nach deren Befreiung zu seinem Verhängnis geworden sein – und auch für seine Familienangehörigen. Sie wurden mit ihm gleichsam ohne jeden juristischen Prozess kaltblütig niedergemetzelt.
Der Mord an den vier Männern aus Cabrera war auf Menorca zugleich der Auftakt zu einer blutrünstigen Tötungsaktion, bei der am 2. und 3. August in der Festung La Mola insgesamt 100 Offiziere kurzerhand erschossen wurden. Später reklamierte die Falange Joan Suñers Vater sowie den jüngeren Bruder Gaspar ebenfalls für sich, obgleich es keine Nachweise für deren Mitgliedschaft gegeben hat. Auf Menorca war Damián Suñer als Pächter und somit Herr von Cabrera betrachtet worden – und damit auch als Feind und Unterdrücker des einfachen Volkes verunglimpft worden. Noch heute erinnert auf Cabrera ein Steinkreuz an die drei Suñers.
Die Familie Bonet wurde hingegen von den Cabrera-Besatzern aus Menorca vorerst verschont, offenbar weil sie als landwirtschaftliche Unterpächter zur Arbeiterklasse gezählt wurden. Erst bei Abzug des republikanischen Expeditionsheeres im Osten von Mallorca (dort waren am 16. August mehrere tausend Soldaten und Milizionäre an Land gegangen) sowie dem zeitgleichen Rückzug von Cabrera am 4. September, wurden der 58 Jahre alte Vater Marcos Bonet sowie seine 26 und 21 Jahre alten Söhne Jerónimo und Antonio gezwungen, mit nach Menorca zu gehen. Dort werden die Söhne zum Kriegsdienst in der republikanischen Armee verpflichtet. Nach dem Bürgerkrieg vegetieren sie sieben Jahre bis 1946 in Gefängnissen und Arbeitslagern, weil sie aus Sicht der Franco-Justiz sich an der „Rebellion” (gegen das aufständische Militär) beteiligt hatten.
Nach dem Verschleppen der Männer von Cabrera am 4. September waren die Frauen der drei Familien mit ihren Kindern dort alleine zurückgelassen worden. Die republikanischen Soldaten hatten bei ihrem Abzug zudem alle Boote zerstört, die Häuser in Brand gesetzt und das Benzinlager in die Luft gesprengt, um dem nachrückenden Feind kein brauchbares Kriegsmaterial in die Hände fallen zu lassen. Erst als ein unbemannt treibendes, gekentertes Boot von Wind und Wellen an das Ufer von Cabrera gespült wird – es war vermutlich bei dem hektischen Truppenabzug in Porto Cristo im Osten Mallorcas verlorengegangen – können die Frauen am 12. September mit einem aus einem Bettlaken angefertigten Segel Cabrera verlassen und zu ihren Großfamilien nach Mallorca übersetzen.
Die einst freundschaftlich einander verbundenen Familien der Suñers und Bonets waren für alle Zeit nicht mehr gut aufeinander zu sprechen. Zu tief saß der Schmerz über den Tod der Angehörigen, der die eine Familie getroffen, die andere hingegen verschont hatte. Hinzu kam der dramatische Verdacht, Jerónimo Bonet könnte, als er an jenem schicksalhaften Tag von seiner Jolle in das U-Boot gezwungen und dort über die Lage auf dem Eiland ausgefragt worden war, Juan Suñer wegen seiner Zugehörigkeit zur Falange an die Republikaner verraten haben. Die vielen Hinweise, Überlieferungen und Dokumente, die der Forscher Juan José Negreira zusammengetragen und ausgewertet hat, sprechen gegen diese These. Es finden sich keinerlei Hinweise darauf. Vielmehr wurden die Suñers nach seinen Worten Opfer einer Gewaltorgie, wie sich solche im Spanischen Bürgerkrieg in vielen Dörfern, Städten und ganzen Regionen zugetragen haben. „Ihr einziges vermeintliches ,Verbrechen’ hatte darin bestanden, zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen zu sein”, so Negreira.
Die schicksalhaften Verknüpfungen der Menschen im Mikrokosmos von Cabrera stellen in ihrer menschlichen Tragik und Grausamkeit lediglich eine winzige Fußnote im Gesamtzusammenhang des Spanischen Bürgerkrieges dar. Und dennoch: „Diese große Tragödie war nicht das Resultat der Spaltung, der sogenannten, sich diametral entgegenstehenden ,Zwei Spanien’. Sie war vielmehr das Ergebnis einer Abfolge, einer Kettenreaktion, durch agierende Minderheiten, die damit einen gewaltigen Strudel auslösten, in den jene riesige Mehrheit hineingerissen wurde, deren einziger Wunsch es gewesen war, in Frieden zu leben.”
Cabrera, das Naturparadies auf blauem Samt vor der Südküste Mallorcas, ist somit ein Sinnbild, ein zeitloses Gleichnis, das ungeachtet seiner Stille und Entrücktheit auch in heutiger Zeit als Mahnung dienen kann – vor drohendem Unheil. Der Vollständigkeit halber sei nicht verschwiegen, dass Jerónima Mas aus Montuïri, die Ehefrau von Damián Suñer am 3. September auch ihren jüngeren Bruder Joan Mas Verd verlor. Der republikanische Bürgermeister von Montuïri war nach dem Franco-Putsch von dessen Truppen an der Mauer des Reitstalls Son Pardo in Palma hingerichtet worden.
Cabrera ließ die Familien nie wieder los. Jerónima Mas kehrte Jahre später zurück und betrieb dort wieder die Kantine des Militärpostens. Jerónimo Bonet wiederum wurde nach der Haft Matrose an Bord eines Fischer- und Ausflugsbootes im Südosten Mallorcas. Doch an ein einziges Ziel konnte sein Chef ihn nie hinbeordern: Nach Cabrera kehrte der Mann, der dort einst die tote Ziege aus dem Wasser hatte fischen wollen, nie wieder zurück.
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