Es ist, als würde einem mit der bloßen Faust ins Gesicht geschlagen: Nähert man sich Lloseta, bemerkt man zuallererst nicht dieses immerhin doch etwas größere Mallorca-Dorf, sondern einen von Schafen und nett anzusehenden Bäumen umgebenen grünen Turm, der als Abschussrampe in einem morbiden Science-Fiction-Film eine gute Figur abgeben würde.
In dem 6200-Seelen-Ort am Fuße des Tramuntana-Gebirges im Inselinnern redet man denn auch spaßig seit Jahren von der „Nasa”. So hässlich der zur ehemaligen Zementfabrik Cemex gehörende raketenartige Bau ist, so sehr steht er jetzt für etwas Positives: Am Donnerstag vor Weihnachten wurden in einer dort befindlichen Anlage die ersten Mengen klimafreundlichen Wasserstoffs produziert.
Im Ort gibt man sich ahnungslos bis erfreut: „Ach was, wirklich?”, fragt die Nonne Elena an der Kirche „Vírgen de Lloseta” den MM-Reporter, während ihr Handy laut klingelt. „Ist doch schön!” Dann schreitet sie von dannen. Drei Gehminuten von dem Gotteshaus entfernt, einem der wenigen ansehnlichen Gebäude des mit vielen modernen Bauten bestückten Ortes, sieht man die Lage an der Wasserstofffront klar: „Jetzt produziert man das dort halt”, gurgelt Carlos aus tiefster Kehle mit Bariton-Stimme in bemühtem Spanisch mit Inselakzent hervor.
Auf der Terrasse der „Bodega Ibáñez” stehend, unterbricht der Lloseta-Einwohner ein fast wütend geführtes Zwiegespräch über Fußballthemen mit einem Bekannten nur kurz. „Es ist doch immer toll, wenn etwas Neues entsteht.”
Die umwälzende Entwicklung, die zwischen dem Ort und der Autobahn Palma-Inca im Gange ist, soll bewirken, die CO2-Emissionen der Insel deutlich zu reduzieren. Hinzu kommt all das andere, was das in Palma an der Macht befindliche Linksbündnis zur Vervollkommnung der Nachhaltigkeit initiierte: Dazu gehört der Ausbau der Solarenergie, die Förderung von Elektroautos und die Umpolung der gesamten Überlandbusflotte auf Naturgasantrieb.
Jetzt steht Lloseta also im Zeichen grünen Fortschritts. Früher sah das anders aus: Bis 1973 wurde mehr als 100 Jahre lang in der Umgebung Braunkohle im Tagebau gefördert, und das in drei Minen: Sa Truyola, Santo Tomás und Can Ramis. Später wurde die Schuh-industrie wie auch in der Nachbarstadt Inca immer wichtiger. Übrig blieben die auf Wanderstiefel spezialisierte Bestard-Fabrik in der Nähe der seit 1875 bestehenden Bahnlinie und das Mokassin-Unternehmen Cabrit. In einem Gewerbepark finden sich noch Baubetriebe und Werkstätten. Und mit dabei war jahrelang halt Cemex, in dessen Turm Zement „en masse” produziert wurde.
Zu dieser Industrieatmosphäre passt der ganze Ort: Ein modernes Wohnhaus reiht sich in den meist schnurgeraden Straßen an das andere, nur am Westende des Ayamans-Palastes beim Cas-Comte-Petit-Hotel sieht es so mallorquinisch-authentisch wie in richtig schönen Dörfern aus. Ganz in der Nähe befindet sich hier ein Gebäude, das im Gegensatz zu den meisten anderen modernen Bauten durchaus mit den alten Häusern harmoniert, das Theater. Schauspielkurse werden hier angeboten, vor der Corona-Pandemie gab es wiederholt schmissige Rockkonzerte.
Das Herz des platzlosen Ortes ist aber nicht das Theater, sondern der wuchtige Ayamans-Palast. Doch der Komplex steht leer und verfällt: Er ist abgesperrt, auch der über 15.000 Quadratmeter große, mit Statuen geschmückte Garten ist unzugänglich. Der Palast gehörte bis in die 1970er der mächtigen March-Familie. Immer wieder ist davon die Rede, hier ein Hotel unterzubringen, doch potenzielle Investoren dürfte die wenig attraktive Umgebung abschrecken.
So gewöhnlich Lloseta auch ist, es gibt etwas, womit die übersetzt „Steinplatte” heißende Gemeinde neben der grünen Zukunft über Gebühr glänzt, und das schon lange: Freunde des guten Essens können in der Bäckerei „Forn de Baix” die wohl besten sahnigen Kardinalschnitten der Insel kaufen und gleich vertilgen. Und die Restaurants Can Carrossa und Tomeu Lassio gelten als Gourmet-Winkel allererster Güte.
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