Palma ist wahrlich ein angenehmer Ort zum Leben. Das dürfte heute die Mehrheitsmeinung unter den Bewohnern der Stadt sein. Das aber war nicht immer so. Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts herrschten in der Stadt Verhältnisse, die für das Wohlergehen der Menschen, die hier lebten, alles andere als förderlich waren. Die Gassen waren eng und feucht, in viele Wohnungen gelangte kaum Sonnenlicht, es wehte kein Wind, der die schwüle Sommerluft durcheinandergewirbelt hätte. Dazu kam ein mittelalterliches, marodes System der Trinkwasserversorgung und der Abwasserentsorgung, das das Entstehen von Seuchen förderte. Spätestens im Jahr 1865 zeigte sich, dass eine Lösung des Problems dringend notwendig war: Damals wütete eine Cholera-Epidemie auf der Insel, vor allem in Palma, wo 2175 Menschen ums Leben kamen.
Kein Wunder also, dass sich auf der Insel Intellektuelle, Politiker und Journalisten Gedanken zu machen begannen, wie die hygienischen Bedingungen in der Inselhauptstadt verbessert werden könnten. Vorbilder gab es genug, da reichte schon ein Blick aufs Festland: In Barcelona, dessen Bewohner mit ganz ähnlichen Problemen kämpften, hatte man zwischen 1854 und 1856 die mittelalterliche Stadtmauer abgerissen und so einerseits die hygienischen Zustände in der Stadt verbessert und zum anderen die Ausdehnung der Stadt ins Umland möglich gemacht. Dies kristallisierte sich schon bald als beste Lösung auch in Palma heraus.
Besonders hervor tat sich dabei der Ingenieur Eusebi Estada, der den fortschrittlichen Kreisen der Stadt angehörte und im Jahr 1885 eine programmatische Schrift über die Notwendigkeit veröffentlichte, die Stadtmauer abzureißen. Darin beschrieb er die Zustände in der Stadt eindrücklich. „In vielen Fällen sind die unterirdischen Trinkwasserdepots in direktem Kontakt mit den Sickergruben“, heißt es da. Das Wasser werde durch Fäkalien verunreinigt, was nachweislich zur Ausbreitung ansteckender Krankheiten führe. Eine der wichtigsten Aufgaben sei also der Bau einer modernen Kanalisation. Dies aber galt angesichts der beengten Verhältnisse in der Stadt als Ding der Unmöglichkeit. Stattdessen sollte nach dem Abriss der Stadtmauer der Bau des Eixample, der Neustadt, Abhilfe schaffen.
Im Laufe des 19. Jahrhunderts war die Einwohnerzahl Palmas von etwa 35.000 auf fast 64.000 gestiegen – die Ausdehnung der Stadt war dabei dieselbe geblieben. Immer enger gedrängt lebten die Menschen folglich. Die Bevölkerungsdichte lag in manchen Gegenden der Stadt gegen Ende des 19. Jahrhunderts bei sage und schreibe 833 Menschen pro Hektar und im Schnitt immer noch bei 500. Zum Vergleich: Heute liegt die Zahl für ganz Palma bei etwa 20 Einwohnern pro Hektar.
Das Problem: Palma war eine Festungsstadt. Im Laufe des 16. und 17. Jahrhunderts war ein breiter Gürtel an Befestigungsanlagen gebaut worden, mit 14 Bollwerken und einem tiefen Graben ringsherum. Aber nicht nur das: Das Umland in einer Entfernung von bis zu 1250 Metern war eine Art militärische Sperrzone, in der strenge Bauvorschriften galten. In bis zu 400 Meter Entfernung durften überhaupt keine Gebäude errichtet werden. In einem weiteren Bereich bis zu 800 Metern Entfernung waren nur leichte, einstöckige Bauwerke erlaubt und erst im dritten Bereich bis zu 1250 Meter Entfernung waren solide Gebäude möglich, allerdings auch nur einstöckig. Die Idee dahinter war, potenziellen Angreifern keine Möglichkeit zu geben, sich in der Nähe der Stadtmauer zu verschanzen.
Blick über Stadtmauer und Hafen. Die Zeichnung stammt aus dem Balearen-Werk des Erzherzogs Ludwig Salvator.
Um diese nun abreißen zu können, musste also die Regierung in Madrid zustimmen. Dafür galt es zunächst, den Nachweis zu erbringen, dass die Stadtmauer ihren ursprünglichen Zweck in einem etwaigen Verteidigungsfall nicht mehr erfüllen konnte. Das gelang Estada in seiner fast 300 Seiten starken Schrift auf brillante Weise. Anhand konkreter Beispiele der damals modernen Kriegführung und der rasanten Entwicklung der Waffentechnik belegte er, dass „unsere Verteidigungsanlagen vollkommen nutzlos sind“. Jeder Angreifer, der es wirklich ernst meine, werde die Stadt auch trotz ihrer Befestigungsanlage ohne große Probleme einnehmen.
Während Estada und seine Mitstreiter in ihrer Argumentation vor allem hygienische Erwägungen anführten, spielten jedoch auch andere Gründe eine Rolle. So behinderten die Enge in der Stadt und die Baubeschränkungen im Umland die Ansiedelung von industriellen Betrieben und damit die wirtschaftliche Entwicklung. Fabriken und Manufakturen konnte es faktisch nur weit außerhalb der Stadt geben.
Auch nicht völlig außer Acht lassen darf man die Rolle, die die Besitzer der außerhalb der Stadtmauern gelegenen Grundstücke spielten, die sich durch die Öffnung der Stadt und den Bau des Eixample finanzielle Vorteile erhofften – ein frühes Beispiel der Immobilienspekulation auf Mallorca. Diese Grundbesitzer unterstützten die Stadtverwaltung in ihren Bemühungen um den Abriss der Stadtmauer, wo sie nur konnten und stellten später sogar den Grund und Boden gratis zur Verfügung, der zum Bau des Straßennetzes in der Neustadt benötigt wurde, wie die Historikerin Dolores Ladaria in ihrem Buch über den Bau der Neustadt schreibt.
Dass die Stadtverwaltung Palmas mit ihrem Ansinnen letztlich erfolgreich war, lag auch an dem Präzedenzfall, den es bereits gegeben hatte. Während der keine zwei Jahre währenden Ersten Republik war 1873 bereits ein Teil der Stadtmauer abgerissen worden. Dabei handelte es sich um den Bereich an der Lonja, wo sich heute der Passeig de Sagrera befindet. Die Regierung in Madrid willigte also schließlich ein und so war es dann am 10. August 1902 so weit: In einem symbolischen Akt wurde der erste Stein aus einem der Bollwerke gebrochen. Allein aus den umliegenden Ortschaften waren 10.000 Menschen eigens nach Palma gekommen, berichtete die Presse damals. Drei Tage dauerte das Fest mit Musik und Feuerwerk. Der Abriss zog sich dann aber noch über mehrere Jahre hin. Der Teil der Mauer im Osten der Altstadt, dort, wo sich heute der Passeig Mallorca befindet, wurde gar erst 1932 abgerissen.
Allerdings wurden nicht alle Mauerabschnitte beseitigt. Die Bollwerke auf Meeresseite blieben erhalten und tragen zum heutigen Charme der Stadt bei.
(aus MM 21/2020)
1 Kommentar
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Wieder mal ein sehr schöner Artikel über Palmas Stadtgeschichte. Danke dafür! Und gerne mehr davon.