Prof. Dr. Pere Salvà in seinem Büro auf dem Campus der Balearen-Universität. | Patricia Lozano

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Mallorca Magazin: Sie sind 1950 geboren, Herr Salvà. Damals gab es noch kaum Ausländer auf der Insel. Heute gibt es hier Menschen aus 175 Ländern. Rund 50 Prozent der Bevölkerung sind nicht auf der Insel geboren. Die Bevölkerung der Insel hat sich verdreifacht. Was macht ein solcher Wandel im Laufe weniger Jahrzehnte mit einer Gesellschaft?

Prof. Dr. Pere Salvà: Wir leben heute in einer vollkommen destrukturierten Gesellschaft. Ein Teil der Bevölkerung versteht sich als Nachkommen des vortouristischen, ländlichen Mallorca. Dann gibt es die Gruppe der Immigranten vom spanischen Festland und schließlich die Einwanderer aus dem Ausland. Wir leben in einer Gesellschaft mit zahlreichen Identitäten.

MM: Ist es nicht überraschend, dass diese demografischen Umwälzungen hier auf dieser Insel ohne große soziale Konflikte vonstatten gehen?

Salvà: In der Tat. Die mallorquinische Gesellschaft gilt ja als eher abwehrend gegenüber Einflüssen von außen. Dennoch hat die Immigration hier kaum Konflikte verursacht, wobei es natürlich Ausgrenzungsprozesse gibt. Ich habe nur eine Erklärung dafür: dass unsere Gesellschaft mittlerweile eben so heterogen ist, so destrukturiert, dass es kaum Berührungspunkte gibt.

MM: Hat Mallorca durch die Einwanderung seine Identität verloren?

Salvà: Ja. Ich bin aber überzeugt, dass Kultur nichts Statisches ist, sondern etwas Dynamisches. Wir können nicht erwarten, dass alles so bleibt, wie es in den 50er Jahren war. Das ist Nostalgie.

MM: Haben Sie Verständnis für Menschen, die Angst vor dem Verlust ihrer Identität haben?

Salvà: Nein. Dieses Phänomen ist unaufhaltbar. Ich sagte schon in den 80er und 90er Jahren, als immer mehr Deutsche auf die Insel zuwanderten und das ein großes Thema war: Die Kinder der Deutschen, die hier geboren werden, sind die künftigen Mallorquiner. Die moderne Kultur auf der Insel ist eine Symbiose aus Deutschland, Marokko und Mallorca. Ich glaube nicht daran, dass man diesen Prozess steuern kann. Die Vermischung ist die natürliche Dynamik einer Gesellschaft.

MM: Wie kam es, dass Sie Ihr Forscherleben der Demografie gewidmet haben?

Salvà: Schon in meiner Doktorarbeit in den 70er Jahren ging es ja auch um die deutsche Zuwanderung nach Mallorca. Das Thema entwickelte sich in den folgenden Jahren zu einem der Topthemen, spätestens mit dem EU-Beitritt Spaniens im Jahr 1986. Es ging dann um den vermeintlichen „Ausverkauf” der Insel, Mallorca als „Florida” oder „Kalifornien” Europas.

MM: In den 90er Jahren gab es die Debatte über die „deutsche Kolonialisierung Mallorcas”. Heute geht es mehr um die Massifizierung der Insel. Sehen Sie da Parallelen?

Salvà: Nein. In traditionellen Vorstellungswelten ist der Grund und Boden gleichbedeutend mit der Identität. Die Vorstellung war, dass mit dem Verkauf der Immobilien diese Identität verloren gehen würde. Das stellte sich dann aber bald als falsch heraus, weil die meisten Deutschen ihre Fincas sehr respektvoll restaurierten. Außerdem bezweifle ich, dass es wirklich eine tourismusfeindliche Haltung auf Mallorca gibt. Wohl gibt es die Forderung nach mehr Kontrolle, nach mehr Regulierung. „Tourismusphobie” ist eine Erfindung der Presse.

MM: Nichtsdestotrotz sagen auch Sie, dass die Insel, was den Tourismus angeht, an ihre Grenzen stößt ...

Salvà: Ja. Aber das Bewusstsein dafür ist noch nicht besonders ausgeprägt. Die Hoteliers beschweren sich, sobald es einmal kein Wachstum gibt. Dabei müssen wir nicht mehr wachsen. Zumindest nicht mehr in absoluten Zahlen. Wir brauchen eine Obergrenze. Es gibt bis heute keinen touristischen Strategieplan.

MM: Wie hat sich die deutsche Einwanderung nach Mallorca im Laufe der Jahre gewandelt?

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Salvà: Es gibt zwei Elemente: Zum einen ist da die relativ bedeutende Präsenz deutscher Residenzialtouristen. Zum anderen ist da die Gruppe derjenigen, die zum Arbeiten kommen. Dieser wird oft nicht die Bedeutung beigemessen, die sie mittlerweile hat. Ein neues Phänomen ist die wachsende Gruppe der relativ wohlhabenden Deutschen, die gleich mehrere Wohnsitze in verschiedenen Ländern haben.

MM: Die Verschärfung der Steuergesetzgebung in Spanien im Jahr 2012 hat dazu geführt, dass sich die Zahl der Deutschen mit Steuerwohnsitz auf Mallorca auf rund 17.000 praktisch halbiert hat. Wagen Sie eine Schätzung, wie viele Deutsche tatsächlich einen Großteil des Jahres auf der Insel verbringen?

Salvà: 60.000. Mindestens. 80 Prozent von ihnen haben hier Immobilienbesitz.

MM: Wie bewerten Sie die deutsche Parallelgesellschaft auf Mallorca?

Salvà: Die meisten Deutschen, die zum Arbeiten kommen, isolieren sich nicht. Die Kinder gehen meist in spanische Schulen und so weiter. Für die älteren Einwanderer gilt das nicht im gleichen Maße. Diese nutzen tatsächlich verstärkt die deutschsprachige Infrastruktur. Wir leben in einer sehr ausdifferenzierten Gesellschaft. Es gibt ja nicht nur die Deutschen auf Mallorca. Wie viele Läden gibt es mit Produkten für die Chinesen, die Inder, die Marokkaner, die Südamerikaner? Das ist ganz normal. Immigranten suchen immer, was sie schon aus der Heimat kennen.

MM: Wie steht es um die Integration der Zuwanderer auf Mallorca?

Salvà: Die erste Generation hat in der Regel noch eine starke Bindung zur Heimat. In der zweiten und dritten ist das dann meist schon ganz anders. Wir haben Studien dazu durchgeführt, die zeigten, dass die jungen Zuwanderer kaum noch Interesse am Heimatland ihrer Eltern hatten. Es gibt aber auch gegenläufige Tendenzen, indem nostalgische Gefühle für die eigenen Wurzeln wieder aufleben. Das ist als Reaktion auf die Ausgrenzung durch die aufnehmende Gesellschaft zu verstehen. Das entscheidende für Integration ist, dass es für Zuwanderer die gleichen Aufstiegsmöglichkeiten gibt wie für die Einheimischen. Das ist hier auf Mallorca aber nicht bei allen Zuwanderern gleichermaßen der Fall.

MM: Die Überalterung der Gesellschaft ist eines der drängenden Probleme der mallorquinischen Gesellschaft. Welche Lösungen sehen Sie?

Salvà: Wir haben jetzt erstmalig mehr Menschen, die älter als 65 sind, als junge Leute unter 15 Jahren. Gleichzeitig leben die Menschen immer länger. Um das Sozialsystem weiterhin finanzieren zu können, brauchen wir mehr Immigration.

Die Fragen stellte Jonas Martiny.

ZUR PERSON

Prof. Dr. Pere Salvà ist Humangeograf an der Balearen-Universität und gilt als herausragender Migrationsforscher der Insel. Besonders mit den Deutschen auf Mallorca beschäftigt er sich seit Jahrzehnten wissenschaftlich.

Salvàs Eltern besaßen einst einen landwirtschaftlichen Betrieb bei S’Aranjassa vor den Toren Palmas – im Hinterland der heutigen Playa de Palma. Den Wandel, den der Tourismus der Insel brachte, hat er also aus nächster Nähe miterlebt. „Meinem Großvater gehörte ein Stück Land direkt an der Küste, ungefähr dort, wo heute das Riu Palace ist”, sagt Salvà. „Dort lagerte er die Posidonia, die er zum Düngen auf den Feldern benutzte.”

Das Grundstück hatte er einst zu einem Spottpreis von 25 Peseten gekauft, da das Land direkt am Meer damals praktisch keinen Wert hatte, weil es nicht fruchtbar war. „Jahre später, noch bevor der Touristenboom losging, verkaufte er die Parzelle für 50.000 Peseten und dachte, ein tolles Geschäfte gemacht zu haben.”

Ein Irrtum: Ein paar Jahre später kostete das Grundstück bereits ein Vielfaches dieses Preises. „Mein Großvater erinnerte sich daran immer als eines der schlechtesten Geschäfte, die er je gemacht hatte”, sagt Salvà.

(aus MM 40/2018)