Instinktiv versuchte sich der Bergsteiger festzuhalten. Doch es war zu spät. An der Felswand fand er keinen Halt, glitt ab, stürzte in die Tiefe. Ein Begleiter, der zum Augenzeuge der letzten Lebensmomente seines Kameraden wurde, gab später zu Protokoll:
Er fiel von jetzt ab immer schneller, blieb mit den Füßen hängen, überschlug sich seitlich und schlug mit dem Kopf auf einem vorspringenden Felsen auf, dieser Aufschlag hat laut Aussage der Ärzte wohl den sofortigen Tod zur Folge gehabt.
Die Rede ist von Richard Boschin aus Gleiwitz. Der 22-jährige Student war als Tourist per Zug und Schiff nach Mallorca gereist. Unterwegs hatte er im Bahnabteil einen deutschen Journalisten aus Mannheim, Walter Koch (24), kennengelernt. Auf Mallorca eingetroffen, entschlossen sich die beiden zu einem Tagesausflug auf den Puig Major, Mallorcas höchstem Gipfel, damals noch ein reines Naturmassiv ohne Radarstation auf der obersten Erhebung. Von Sóller aus, wo die beiden zu diesem Zweck eigens in der Herberge Fonda del Guía übernachtet hatten, galten ein Auf- und Abstieg innerhalb der Stunden mit Tageslicht als durchaus machbar. Hinzu kam, dass Boschin sich gegenüber dem unerfahrenen Koch als Alpinisten bezeichnet hatte. Voll Vertrauen in die Kenntnisse des Jüngeren machte sich das Duo somit am 26. September 1931, einem Samstag, auf den Weg.
Nachdem sie das Dorf Fornalutx hinter sich gelassen hatten, verfehlten Boschin und Koch aber offenbar den richtigen Pfad, verliefen sich in einem Geröllfeld und versuchten dann gegen 12 Uhr, um sowohl den Gipfel als auch den 18.15-Uhr-Zug zurück nach Palma zu erreichen, „einen sich vor ihnen auftuenden Gebirgsteil durch Klettern direkt zu nehmen“. Boschin stieg voran und suchte vermutlich nach einer geeigneten Stelle. Just in jenem Abschnitt geschah das Unglück. Der später im deutschen Konsulat in Palma akribisch angefertigte Bericht vermerkte:
Boschin blieb schließlich, nachdem er zirka 50 Meter abgestürzt war, auf einer weniger steilen Anhöhe liegen. In seinem Schrecken rief Koch sofort um Hilfe, konnte aber niemanden hören, der sich bemerkbar machte. Er machte sich jetzt an den Abstieg und fand nach ungefähr einer halben Stunde den abgestürzten Boschin tot vor. Es wurden die zuständigen Stellen von dem Vorfall benachrichtigt und die Leiche noch in der Nacht zum Sonntag geborgen.
Keine drei Jahre später, am 16. April 1934, war am Puig Major erneut ein verunglückter Deutscher zu beklagen. Im Gegensatz zum Touristen Boschin handelte es sich diesmal um ein bekanntes Mitglied der deutschen Gemeinschaft auf Mallorca: Der junge Friseur Bruno Butterweck aus Bochum war seit 1932 Angestellter im Damen- und Herrensalon des deutschen Ehepaares Norget an der Plaza Gomila in Palma. Der Platz im El- Terreno-Viertel war seinerzeit ein kleines Wirtschaftszentrum der „Alemanes”. Der Salon befand sich in unmittelbarer Nachbarschaft zur Konditorei Rup und dem Fotogeschäft Balear, beide wurden ebenfalls von Deutschen betrieben, die sich als Residenten auf der Insel niedergelassen hatten.
Mehr noch: Der 21 Jahre alte Butterweck war neben seinem Job auch Mitglied der NS-Ortsgruppe Palma de Mallorca. Er zählte damals zu den frühen Nationalsozialisten, die der braunen Bewegung beigetreten waren, noch bevor Hitler Ende Januar 1933 die Kanzlerschaft angetragen worden war.
Zur Bergtour, auf der Butterweck den Tod finden sollte, war der Bochumer gemeinsam mit einem Freund, dem oberhalb von Cala Major im Fremdenheim Son Matet arbeitenden Koch Friedrich Schulz aus Stettin, aufgebrochen. Das Duo hatte ebenfalls die Nacht zuvor in Sóller in der Fonda del Comercio verbracht.
Dann erfolgte der Aufstieg und wieder kamen weit oberhalb von Fornalutx Zweifel am richtigen Weg auf. Tage nach dem Unglück hielt Schulz in einem Bericht fest:
Bald hatte Butterweck einen anderen Aufstieg entdeckt, den wir dann mit Leichtigkeit 50 Meter fortsetzen konnten. Hierselbst, auf einer Plattform wurde beraten, wie weiterzukraxseln. Links ein steiler Felsen, rechts ein Kamin, vom Gebirgswasser ausgespült. Unsere Meinungen über den Aufstieg teilten sich hier. Ich warnte Butterweck vor den bröckeligen Steinen. Doch er versuchte diesen Aufstieg, während ich an dem Steilhang weiterkraxelte. Wir mussten ca. 15 m voneinander entfernt sein, denn auf verschiedenes Rufen, wie der Aufstieg bei Butterweck war, bekam ich keine Antwort. Plötzlich hörte ich ein Krachen von fallenden Steinen, und mit ihnen sah ich Butterweck auf einen Felsen aufschlagend in die Tiefe stürzen. Kein Angstschrei tönte aus seinem Mund, sondern ich hörte nur einen dumpfen Fall in der Tiefe.
Wie schon bei Boschin leitete auch in diesem Fall der Friedensrichter von Fornalutx die Untersuchungen und veranlasste die Beerdigung des Toten auf dem Friedhof des Dorfes, das 1984 zum zweitschönsten von ganz Spanien gekürt werden sollte. An der Trauerfeier für den jungen Friseur nahmen ein Dutzend Deutsche aus Palma teil, unter ihnen Arbeitgeber Hans Norget, der Direktor der deutschen Schule, der Leiter der NS-Ortsgruppe, der deutsche Konsul. Präsent waren zudem ein Geistlicher, der Bürgermeister des Dorfes und nahezu die gesamte Einwohnerschaft.
Weder Boschin noch Butterweck haben je einen Grabstein erhalten. Im ersten Fall vereitelte die Weltwirtschaftskrise das Vorhaben. Boschins Vater, ein Bauunternehmer ohne Aufträge, hatte am Ende nicht einmal genug Geld, um die Bestattungskosten zu überweisen. Im Falle von Butterweck schaltete die Familie eine Traueranzeige in ihrer Lokalzeitung in Bochum:
Ruhst Du auch in fremder Erde, die Heimat bleibt Dir ewig treu.
Die sterblichen Überreste von Boschin und Butterweck haben den Gottesacker von Fornalutx niemals verlassen, bestätigte der ehemalige und langjährige Bürgermeister Joan Albertí Sastre auf Anfrage. „Das Ruhen” in fremder Erde hält somit mehr als 80 Jahre nach den tödlichen Abstürzen weiter an, auch wenn die exakten Grablagen der beiden Deutschen nicht mehr bekannt seien.
(aus MM 11/2018)
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