"Es stirbt", sagt Miquel Ramis. Das vier Tage alte Lamm war getaumelt und lag reglos auf dem Boden. Dreimal am Tag hatte der zwölfjährige Junge aus Santa Eugènia ihm Milch gegeben, weil es von der Mutter abgelehnt worden war und auch Probleme mit dem Trinken hatte. Plötzlich bewegt sich das Lamm und öffnet die Augen. "Oh, es ist noch da", meint Miquel erleichtert. "Wenn es den Tag heute schafft, wird es überleben."
Miquel Ramis ist ein ungewöhnlicher Junge, ein sehr ungewöhnlicher. Wie aus einer vergangenen Zeit wirkt er mit seinen Interessen und Ansichten und ist gleichzeitig erfrischend natürlich. Die Freunde spielen Fußball, chatten, spielen Videogames, gehen ins Kino - was Jungs halt so machen. Miquel kann mit alldem nichts anfangen. Ihn begeistern von klein auf Tiere, nicht Haustiere - daraus habe er sich nie etwas gemacht, sagt er mit kratziger Stimme mitten im Umbruch - sondern Nutztiere. "Schon als er vier oder fünf Jahre alt war, ging er zu einem alten Schäfer in der Nachbarschaft, um von ihm zu lernen", erzählt Miquels Mutter, Rosa Mulet. Stundenlang sei er oft bei ihm gewesen. Die Eltern sind keine Bauern. Sie arbeiten in Palma. Der Vater ist bei der Feuerwehr beschäftigt.
Miquels erste eigene Tiere waren Hühner. Dann kamen Kaninchen, Ziegen und Schafe hinzu. Jeden Morgen um 6.15 Uhr, wenn der Rest der Familie noch schläft, steht er auf, macht sich Frühstück und versorgt die Tiere. Einen Teil hält er bei sich zu Hause im ausgedehnten Hintergarten. Der Rest ist im Dorf verteilt. "Wenn ich sehe, dass eine Finca nicht bewohnt ist, gehe ich zu den Eigentümern und frage, ob ich meine Ziegen und Schafe auf dem Grundstück grasen lassen kann", erklärt er. Um 8 Uhr bringt ihn der Vater in die Schule. Am Nachmittag ist er wieder bei den Tieren. Das Fach Sport mag er gerne, aber ansonsten lerne er mehr in der Natur als in der Schule, findet er: "Die Tiere und Pflanzen zeigen mir, wie sie wachsen, was sie zum Leben brauchen und wie man sie behandeln muss." Früher, als er noch Grundschüler war, hätten sie einen Schulgarten gehabt. Er sei dafür verantwortlich gewesen und habe den anderen Kindern gezeigt, wie man pflanzt.
Neulich lud ihn ein Freund zum Geburtstag ein. Sie sollten auch alle zusammen übernachten. Er hätte es ihm gerne erlaubt, sagt der Vater, Matíes Ramis. Aber Miquel sagte ab. Die Tiere seien ihm wichtiger, meint er achselzuckend. Die Freunde sagten nichts, sie kennen ihn ja nicht anders, meint er mit einem Lächeln. Er verreist auch nicht gerne in den Ferien. "Ich brauche das nicht." Selbst nach Palma fährt er nur ungern. Dort sei es so laut, die Luft schlecht und überall liege Abfall. Seine 14-jährige Schwester Mariona versteht das nicht. Sie liebe die Stadt, die Geschäfte, das Leben dort, sagt sie kopfschüttelnd.
Zusammen mit Freunden hat Miquel einen Verein von Kinderbauern gegründet (Associació de nens pagesos). Auf der Finca des Vaters eines der Kinder treffen sie sich und bauen Gemüse an - streng biologisch, das gilt auch für die Tierhaltung. Und wenn die Zeit kommt, werden die Tiere geschlachtet. Natürlich tue ihm das leid, sehr sogar, aber dafür seien die Tiere da, sagt Miquel. Unter Aufsicht macht er das schon selber.
Am Abend schickt sich der Junge an, seine Schafe und Ziegen von der Weide zu holen. Mit Schäferstock und Kappe zieht er los. Schon aus der Ferne pfeift er durchdringend. "Zwei kurze Pfiffe hintereinander bedeuten ,herkommen'", erklärt er. Die Tiere rennen ihm entgegen. Mit "Ho ho ho" bringt er Ruhe in die kleine Herde. Dann pfeift er zweimal kurz und einmal lang. Ziegen und Schafe sollen sich trennen, heiße das, sagt Miquel. Man merkt, er ist in seinem Element. "Ja", bestätigt er. "Hier fühle ich mich wohl. Hier bin ich frei. Und keiner sagt mir, was ich zu tun habe." Ob er später einmal Vollzeit-Bauer wird, glaubt er allerdings nicht. Damit komme man heutzutage doch sehr schwer über die Runden. Aber er hat ja noch viel Zeit.
(aus MM 17/2016)
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