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Die zerstörerische Macht der Kränkung – und wie wir besser mit ihr umgehen können

Was schätzen Sie, wann Sie das letzte Mal gekränkt wurden? Und wann haben Sie das letzte Mal jemand anderen gekränkt? Große und kleine Demütigungen sind derart verbreitet, dass kaum ein Mensch auch nur einen einzigen Tag verlebt, ohne sich irgendwann gekränkt zu fühlen oder einen anderen zu kränken. Die Skala reicht von kleinen ablehnenden Erfahrungen wie dem Nichterwidern des Morgengrußes beim Betreten des Büros, über den abschätzenden Blick der Verkäuferin, obwohl Sie sich in der knallengen weißen Jeans so richtig sexy fühlen, bis zum geringschätzenden Kommentar des Partners, weil Sie sich irgendein neues Produkt „haben aufschwatzen lassen«. Häufig paart sich das unangenehme Gefühl der Ablehnung noch mit Scham, dann wird es besonders schlimm.

Kränkungen treffen uns oft unerwartet und hinterlassen Wunden, die tiefer gehen können, als uns bewusst ist. Als Therapeutin habe ich viele Menschen gesehen, die durch Kränkungen geprägt wurden, oft ohne zu erkennen, wie sehr diese ihr Selbstwertgefühl und ihre Beziehungen beeinflusst haben.

Aber was macht Kränkung so mächtig, und warum hinterlässt sie einen so tiefen Eindruck in unserer Psyche? Kränkung entsteht, wenn unser Selbstbild verletzt wird, sei es durch Kritik, Zurückweisung oder Demütigung. Sie greift unser Selbstwertgefühl an und hinterlässt das Gefühl, ungerecht behandelt worden zu sein. Freud sprach von „narzisstischen Kränkungen«, die besonders tief wirken, weil sie genau die Schwachstellen unserer Identität treffen. Eine Bemerkung, die für eine Person harmlos erscheint, kann eine andere zutiefst verletzen.

Warum sind wir so anfällig für Kränkungen? Ein Grund liegt in unserer sozialen Natur: Als Menschen streben wir nach Anerkennung und Akzeptanz. Wenn wir gekränkt werden, fühlt es sich an, als würden wir aus der Gemeinschaft ausgeschlossen – eine Bedrohung, die in unserer evolutionären Vergangenheit lebensgefährlich war. Psychologisch reagieren wir auf Kränkung oft mit Abwehrmechanismen wie Wut, Rückzug oder Selbstvorwürfen. Diese Reaktionen verdecken jedoch oft den eigentlichen Schmerz, den wir nicht zulassen wollen oder können.

Gerade in Beziehungen sind Kränkungen besonders zerstörerisch. Wenn Partner einander wiederholt kränken, ohne dies anzusprechen, kann eine emotionale Distanz entstehen, die schwer zu überwinden ist. In intimen Beziehungen sind wir besonders verletzlich und erwarten von unserem Partner, dass er unsere Gefühle schützt. Bleibt dies aus, fühlen wir uns tief verletzt und neigen dazu, uns zurückzuziehen, anstatt über die Kränkung zu sprechen. Dies kann zu einem Teufelskreis führen, der die Beziehung belastet und es möglicherweise bis zur Trennung kommen lässt.

Kränkungen haben auch eine gesellschaftliche Dimension. In einer polarisierten Welt können politische oder kulturelle Differenzen Kränkungen auslösen, die sich in Wut und Rückzug äußern. Nicht selten entstehen dadurch auch gewalttätige Auseinandersetzungen und sogar Kriege. Besonders in den sozialen Medien sind Menschen oft anonym und enthemmt, wodurch Kränkungen in Form von Beleidigungen öffentlich ausgetragen werden. Diese digitalen Kränkungen können zu ernsthaften psychischen Problemen führen, weil sie öffentlich und für viele sichtbar sind. Leider gibt es mittlerweile schon unzählige Fälle, bei denen Jugendliche durch Cybermobbing (eine besonders perfide Art der Kränkung) psychisch zu Schaden gekommen sind. Auch Suizidversuche wurden schon verzeichnet.

Wie kann man sich von Kränkungen erholen? Der erste Schritt besteht darin, sie zu erkennen und die schmerzhaften Gefühle zuzulassen. Oft sind Kränkungen mit Scham verbunden, die uns daran hindert, sie zu verarbeiten. Selbstmitgefühl ist hier entscheidend: Wir sollten uns mit der gleichen Freundlichkeit begegnen, die wir einem Freund zeigen würden. Vergebung ist ein weiterer wichtiger Schritt. Zu vergeben bedeutet nicht, die Kränkung zu vergessen, sondern sich von dem Wunsch nach Vergeltung zu lösen und damit frei zu werden. Ich mache mit der Vergebungstherapie in meiner Praxis seit Jahren sehr gute Erfahrungen. Sei es, dass dem Ex-Partner nach Fremdgehen und jahrelangem Hintergehen vergeben wird oder den Eltern, die einen während der gesamten Kindheit geschlagen und erniedrigt haben.

Besonders in engen Beziehungen kann ein offener Dialog Kränkungen heilen. Indem wir unsere Gefühle in Ich-Botschaften ausdrücken, ohne den anderen anzugreifen, können wir Missverständnisse klären und emotionalen Schaden reparieren. In meiner Praxis habe ich oft erlebt, wie transformative (Paar-)Gespräche dazu beitragen, dass aus Kränkungen sogar tiefere Bindung entstehen kann.

Trotz ihrer negativen Auswirkungen kann Kränkung auch eine Chance für persönliches Wachstum sein. Indem wir uns mit unserer Verletzlichkeit auseinandersetzen, können wir mehr über uns selbst lernen und innere Konflikte bearbeiten. Dieser Prozess kann schmerzhaft sein, eröffnet aber die Möglichkeit, unser Selbstwertgefühl unabhängiger von der Meinung anderer zu machen. Wenn wir die Kränkung als Spiegel unserer emotionalen Bedürfnisse betrachten, können wir unsere Schwächen erkennen und lernen, uns selbst mit Mitgefühl zu begegnen.

Wie können wir also Kränkungen bewältigen? Diese schwierige, universelle Erfahrung, betrifft uns alle. Sie ist tief mit unserem Bedürfnis nach Anerkennung und Zugehörigkeit verknüpft und kann, wenn sie unverarbeitet bleibt, großen Schaden anrichten. Doch wenn wir lernen, mit Kränkungen konstruktiv umzugehen, uns ihnen zu stellen und sie als Gelegenheit zur Selbstreflexion und zum Wachstum zu nutzen, können wir aus ihnen gestärkt hervorgehen. Dieser Prozess ist nicht leicht, aber er führt zu mehr innerer Stabilität und einem tieferen Verständnis für uns selbst und andere.

Letztlich sollten wir uns bewusst machen, dass Kränkungen uns zwar verletzen, aber nicht definieren. Sie sind Teil des Lebens, aber nicht das Ende unserer Geschichte. Mit Selbstmitgefühl, Offenheit und der Bereitschaft zum Dialog können wir lernen, mit ihnen umzugehen – und dabei wachsen. In diesem Sinne.