qrf

TW
0

Je früher man sie erkennt, desto erfolgreicher kann man sie behandeln

Für Therapeuten ist das Behandeln von Familie und Freunden nicht vorgesehen, im Grunde sogar berufsrechtlich untersagt. Diese Regel hat ihre guten Gründe: Durch die fehlende Distanz erscheint es kaum möglich, die Probleme der Betroffenen professionell zu erkennen und anzusprechen. Dass sich Kollegen untereinander schon einmal von ihren Herausforderungen berichten und sich Interventionen anbieten, ist hingegen übliche Praxis. Die Grenze zwischen Behandlung und Austausch scheint also fließend zu sein.

Vor ein paar Jahren berichtete mir eine Kollegin und gute Freundin, dass sie das Gefühl habe, am Abend zunehmend müde und unausgeglichen zu sein. Sie hatte wenig Lust auf Freizeitaktivitäten, blieb auch mit ihrem Partner am liebsten zu Hause. Verabredungen mit Freunden sagte sie immer öfter ab. Sie berichtete mir, dass sie das Gefühl habe, die Freude an den Dingen mehr und mehr zu verlieren, ja teilweise gar nichts mehr zu fühlen. Kurzum, sie machte sich Sorgen um ihr Seelenwohl. Allerdings betonte sie immer wieder, dass es nicht "schlimm genug" sei, um sich in ärztliche oder psychotherapeutische Behandlung zu begeben.

Als Therapeutin machte ich mir natürlich auch meine Gedanken dazu. Mit ihrer Gefühlslage beschrieb sie im Grunde die Hauptsymptome einer Depression: gedrückte Stimmung, Interessenverlust und Freudlosigkeit sowie eine Verminderung des Antriebs und eine Einschränkung der Aktivität. Halten diese Symptome über mehr als zwei Wochen an, kann man von einer Depression ausgehen.

Was allerdings ganz und går nicht zu diesem Krankheitsbild passte, war ihre Situation am Arbeitsplatz. Als selbstständige Therapeutin war sie montags bis freitags hoch motiviert im Einsatz und sorgte sich liebevoll und kompetent um ihre Klienten. Auch Abendtermine bot sie an und manchmal arbeitete sie ebenfalls an Samstagen, wenn es für die Klienten nicht anders möglich war. Die Kollegen in der Gemeinschaftspraxis und ihre Klienten erlebten sie freundlich, wach und interessiert. Von Erschöpfung und Unausgeglichenheit keine Spur.

Wir waren beide einigermaßen ratlos und zogen sowohl Wechseljahresbeschwerden als auch Trauer nach dem Auszug der großen Tochter, die zum Studieren in eine andere Stadt gezogen war, in Betracht. Interessiert an ihrem Zustand und natürlich motiviert, meine Freundin zu unterstützen, begann ich zu recherchieren. Dass eine Depression viele Gesichter und viele Namen haben kann, war mir bekannt, aber ich stieß bald auf etwas, dass ich so noch nicht gehört oder gelesen hatte: die "hochfunktionale Depression".

Dieser Ausdruck wird verwendet bei Menschen, die nach außen hin weiter funktionieren, sich innerlich jedoch teilnahmslos und verzweifelt fühlen. Patienten mit dieser Diagnose sind oft verantwortungsvoll, engagiert und auch erfolgreich, fühlen sich unter der Oberfläche aber depressiv, bis hin zur Suizidalität. In fast allen Fällen spielt dabei die innere Überzeugung eine Rolle, dass man keine Fehler machen darf, die Kontrolle behalten muss, anderen nicht zur Last fallen sollte. Die Schwere und Intensität der seelischen Krise wird also verborgen. Bei dem Begriff "hochfunktionale Depression" handelt es sich nicht um eine offizielle Diagnose oder einen wissenschaftlich erforschten klinischen Begriff, dennoch wird diese Bezeichnung in den sozialen Medien häufig diskutiert. Menschen fühlen sich davon offenbar angesprochen.

"Das sollten wir ernst nehmen", sagt Eva-Lotta Brakemeier, Direktorin des Zentrums für Psychologische Psychotherapie an der Universität Greifswald. "In den letzten Jahren", erklärt die Psychotherapieforscherin, "habe sich herausgestellt, dass Depressionen in ihrem Erscheinungsbild heterogener seien als angenommen. Wenn neue Beschreibungen von depressiven Zuständen auftauchen, die von der Bevölkerung aufgegriffen werden, können behandlungsbedürftige Depressionen eher erkannt werden. Das bietet eine Chance, Krisen erfolgreicher zu behandeln. Denn je früher Depressionen erkannt werden, desto besser können Therapien in der Regel wirken. Auch das Risiko einer Chronifizierung der Symptome ist dann geringer. Das legt etwa eine Metastudie des Neurowissenschaftlers Christoph Kraus von der Medizinischen Universität Wien no." Eva-Lotta Brakemeier vermutet, dass ein Begriff wie "hochfunktionale Depression" vor allem Menschen hellhörig macht, die in einer seelischen Krise sind, sich traurig, belastet und freudlos fühlen, sich aber im klassischen Bild von depressiver Antriebslosigkeit nicht wiederfinden – ihr Alltag ist einfach zu betriebsam. Doch dass man trotzdem depressiv sein kann, zeigen nicht zuletzt Studien, die einen Zusammenhang zwischen Depression und Perfektionismus belegen. So spielen bei Menschen mit einer versteckten Depression eine Tendenz zum Perfektionismus, starke Leistungsorientierung und die Überzeugung, "dankbar sein zu müssen", eine Rolle.

Letztendlich konnte sich meine Freundin in dem Gefühl "ständig dankbar sein zu müssen" wiederfinden. Zwanghafte Dankbarkeit wurde ihr von Kindheit an beigebracht und sie hatte nie wirklich gelernt zu erkennen, dass ein Großteil ihres Erfolges im Leben auf ihrer harten Arbeit, Ausdauer und Fleiß fußte. Sie konnte sich schließlich eingestehen, dass sie eine depressive Episode hatte und sich Unterstützung holen. Durch eine entsprechende therapeutische Begleitung und etwas Geduld ging es ihr nach einiger Zeit besser. Sie hatte verstanden, dass es (auch für Therapeuten) wichtig ist, sich Hilfe zu holen, um destruktive Verhaltens- und Denkmuster zu durchbrechen, Neues zu lernen im Umgang mit den eigenen Anforderungen, dem eigenen Perfektionismus.

Wenn Sie sich wiedererkennen in den geschilderten Beschwerden und das Gefühl haben, dass ja alles nicht so schlimm sei und sie das schon irgendwie hinbekommen, so kann ich Ihnen nur empfehlen: Seien Sie es sich wert, informieren Sie sich und lassen Sie sich professionell beraten. Betrachten Sie seelische Herausforderungen wie körperliche Verletzungen. Auch bei einem verstauchten oder gebrochenen Fuß ist es nicht ratsam, mit dem Arztbesuch zu warten, bis Sie sich an die zwar schmerzfreie, aber ungute Schonhaltung gewöhnt haben. In diesem Sinne.