Da ist es nun, das Neue Jahr 2024. Noch ganz jungfräulich und rein liegt es vor uns und wir wissen nicht, was es uns bringen wird. Für einige Menschen ist das nur schwer auszuhalten. Andere verlassen sich darauf, dass es schon irgendwie gehen wird. Wussten Sie übrigens, dass das titelgebende Sprichwort von Goethe ist? Veröffentlich um 1827. Die Bedeutung ist allerdings viel älter. Bereits im Mittelalter wussten Mönche schon, dass einerseits Nichtwissen eine Form von Dummheit und Nichtwissenwollen bedeutete, andererseits aber das Nichtwissen immer auch einen ruhigeren Gemütszustand mit sich brachte. Besonders bei Ereignissen, auf deren Verlauf der Mensch keinen Einfluss nehmen kann, brachte das Nichtwissen eine gewisse Erleichterung. Daran hat sich bis heute nicht viel geändert. So kann es sehr hilfreich und gut für die sogenannte Psychohygiene sein, weniger Nachrichten zu konsumieren (siehe auch MM 45/2022).
Man weiß heute, dass es eine große Belastung für unser Gehirn wäre, alle Erfahrungen, Ereignisse und Situationen ganz genau in Erinnerung zu behalten. Einige Informationen verblassen, verschwinden mit der Zeit. Hier spricht man dann von Vergessen, d.h. der Vorgang entzieht sich unserem Willen. Anders beim Verdrängen. Dazu liest man bei wikipedia: "[In der Lernpsychologie gilt:] Die Verdrängung wird im Unterschied zum Vergessen als aktiver Prozess gesehen, der einen ständigen psychischen Aufwand erfordere, die so genannte Verdrängungsarbeit. [...} Die Vorstellungen gingen nicht in einen Bewusstseinsstrom der Erinnerung, eine generalisierte Erinnerungsspur, ein. Dies hemme und verfälsche die Aufnahmebereitschaft für neue Vorstellungs- und Bewusstseinsinhalte und behindere die Lernfähigkeit ganz allgemein."
Vereinfacht ausgedrückt bedeutet das, dass beispielsweise eine Ehefrau, die verdrängt, dass ihr Ehemann immer öfter später nach Hause kommt, die Erklärungen dafür immer abstruser werden und er fahriger und nervöser in seinem Verhalten erscheint, mit der Zeit immer weniger seiner Signale empfangen kann, dass die Ehe vielleicht nicht mehr so gut läuft und der Ehemann möglicherweise bereits eine Außenbeziehung führt. Das könnte natürlich dazu führen, dass sich beide irgendwie mit ihrer Lebenssituation arrangieren und noch eine Weile (mitunter viele Jahre) zusammenbleiben (Was ich nicht weiß...). Andererseits ist es fraglich, ob auf diese Weise nicht beide die Chance verlieren, ein glückliches und zufriedenes Leben zu führen.
Ähnlich verhält es sich mit Menschen, die über viele Jahre nicht zum Zahnarzt gehen, weil sie eine schmerzhafte Behandlung fürchten. Sie verdrängen, dass ihre Zähne schmerzen oder, dass es immer schwieriger wird, in einen Apfel zu beißen. Ironischerweise verursacht das Verdrängen dann manchmal genau das, was man zu vermeiden versuchte. Andere Menschen scheuen Arztbesuche im Allgemeinen, um eine möglicherweise schlimme Diagnose zu vermeiden. Hier wird verdrängt, was der Körper an Symptomen zeigt. Die Kopfschmerzen kommen vom Wetter, die Verdauungsprobleme vom fetten Essen, die Gewichtsabnahme vom Stress. Ich habe sogar einmal von einer jungen Frau gehört, die neun Monate erfolgreich verdrängt hatte, schwanger zu sein. Da sie kaum einen Bauch entwickelte, waren nicht nur sie, sondern auch ihre Umwelt völlig überrascht, als sie am Arbeitsplatz, auf der Toilette nach "krampfartigen Unterleibsschmerzen", plötzlich ein Kind gebar. Unvorstellbar? Die Welt schreibt dazu: "Die Frauen verdrängen die Schwangerschaft unbewusst, haben Psychiater und Gynäkologen herausgefunden. Das Phänomen ist gar nicht so selten: Nach einer Berliner Studie aus dem Jahr 2007 wird eine von 475 Schwangerschaften erst nach der 20. Schwangerschaftswoche bemerkt. Dass die werdenden Mütter sogar bis zur Geburt nichts ahnen, trifft demnach auf eine von rund 2500 Schwangerschaften zu."
Daneben gibt es natürlich auch das Vermeiden der unangenehmen Alltagserlebnisse. Durch das Liegenlassen der Post, in der man Rechnungen, Steuernachzahlungsbescheide oder gar eine Kündigung erwartet, versucht man die Konsequenzen zu verdrängen. Dass das auf Dauer nicht gut gehen kann, liegt auf der Hand. Sollten Sie dieses Verhalten an sich oder anderen beobachten, achten Sie bitte darauf, dass es nicht zur Gewohnheit wird. Es passiert gar nicht selten, dass Menschen durch dieses Vorgehen schleichend die Kontrolle über ihr Leben verlieren. Professionelle Unterstützung kann da notwendig sein und helfen.
Dann gibt es einen Lebensbereich, den alle Menschen mehr oder weniger oft erleben und mehr oder weniger intensiv durchleiden: Verlusterfahrungen. Ganz gleich, ob es um Trauer über den Tod eines geliebten Menschen oder Tieres, den Verlust der Heimat oder des Arbeitsplatzes oder der Gesundheit geht. In der Trauer spielt Verdrängung eine große Rolle. Noch heute hört man manchmal, wie teilweise sogar verächtlich, darüber getuschelt wird, dass ein Trauernder wohl alles verdränge, man könne zumindest gar nicht erkennen, dass der oder die trauere. Laut dem Dualen Prozessmodell nach Stroebe, gibt es zwei große Bereiche, zwischen denen Trauernde sich bewegen. Die Seite der Verlust-Orientierung, hier findet die Trauerverarbeitung statt. Die Bindung zum Verstorbenen (Verlust) wird transformiert, d.h. verändert. Der Betroffene durchlebt Wellen von Schmerz. Veränderungen im Leben werden weitestmöglich vermieden bzw. verdrängt.
Dann gibt es die Wiederherstellungs-orientierten Verhaltensweisen. Der Betroffene stellt sich den Veränderungen des Lebens, neue Dinge werden unternommen. Man lenkt sich ab von Trauer u.a. durch Leugnen und Vermeiden des Schmerzes. Man findet sich in neuen Rollen, neuen Identitäten und nimmt neue Beziehungen auf. Zwischen beiden Bereichen bewegt sich der Trauernde und beide Seiten haben ihre Wichtigkeit. Verdrängung findet zweitweise auf beiden Seiten statt. Zum einen werden Neuerungen verdrängt (man verhält sich, als wäre noch alles beim Alten). Zum anderen werden Verlustgefühle, Trauer und Schmerz verdrängt, um sich dem Neuen zuwenden zu können.
Zusammenfassend kann man sagen, seelisch gesund ist nur der goldene Mittelweg. Die Aufgabe ist es, das rechte Maß zu finden zwischen Erinnern und Vergessen, zwischen Vergegenwärtigen und Verdrängen. In diesem Sinne.
Kein Kommentar
Um einen Kommentar schreiben zu können, müssen Sie sich registrieren lassenund eingeloggt sein.
Noch kein Kommentar vorhanden.