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„Es gab einen Strawinsky vor seinem „Sacre du Printemps“, es gab einen danach.“ Ganz so einfach, wie Joachim Mischke das in seinem Buch „Der Klassik-Kanon“ formuliert hat, ist die Sache allerdings nicht. Sicher ist, dass die Musikwelt nach der Uraufführung des „Sacre“, einem der größten Skandale der Musikgeschichte, nicht mehr die gleiche war: schon die ersten Töne markieren den „Trampelpfad in eine andere Welt, in eine andere Zeitrechnung“ (Mischke). Es gibt keinen eindeutigen Rhythmus, unzusammenhängende Akkorde krachen aufeinander. Etwas Großes, Animalisches, Bedrohliches fegte 1913 durch den Saal des Théâtre des Champs -Élysées, Stühle gingen zu Bruch, das Spektakel artete in eine Schlägerei aus. „It’s all about sex“ sollte Leonard Bernstein Jahrzehnte später lakonisch konstatieren.

Während Strawinsky – im Auftrag Djagilews, des Gründers und damaligen Impressarios der „Ballets Russes“ – bereits das „Sacre“ in Arbeit hatte, kam ihm die Idee zu Petruschka. Zunächst als Konzert für Klavier und Orchester gedacht, aber, von Djagilew angeregt, zum Ballett umfunktioniert, handelt das Stück von einer wild gestikulierenden Gliederpuppe, die ein Gaukler, zusammen mit einem Mohren und einer Ballerina, auf dem Markt von St. Petersburg einem vergnügungssüchtigen Publikum vorführt. In seinen Erinnerungen (1936) schrieb Strawinsky: „Bei dieser Arbeit hatte ich die hartnäckige Vorstellung einer Gliederpuppe, die plötzlich Leben gewinnt und durch das teuflische Arpeggio ihrer Sprünge die Geduld des Orchesters so sehr erschöpft, dass es sie mit Fanfaren bedroht. Daraus entwickelt sich ein schrecklicher Wirrwarr, der auf seinem Höhepunkt mit dem schmerzlich-klagenden Zusammenbruch des armen Hampelmannes endet.“

Das Ballett besteht aus vier Bildern: „Volksfest in der Butterwoche“, „Bei Petruschka“, „Beim Mohren“ und nochmal „Volksfest in der Butterwoche“ (diesmal am Abend). Das Orchester ist, vor allem im Schlagzeug, groß besetzt: Pauke, Triangel, Becken, Große Trommel, Kleine Trommel, Tambourin, Tamtam, Xylophon, Celesta und Klavier.

Das erste Bild imitiert typische Klangeindrücke von einem Jahrmarkt: Stimmengewirr, Signale und Fanfaren. Auch Folkloristisches hat seinen Platz, es erklingen Zitate aus österreichischen, russischen und französischen Volksliedern. Das zweite und dritte Bild ist geprägt von Charakterisierungen der Protagonisten, wobei der Mohr dümmlich und primitiv dargestellt wird. Seine Stumpfsinnigkeit wird durch den einfachen, ostinaten Rhythmus in Basstrommel, Becken und Streichern gekennzeichnet. Sowas durfte man 1911 noch… - Das vierte Bild zeigt den Kampf Petruschkas gegen den Mohren, in dem er schließlich unterliegt: der Mohr tötet ihn mit seinem Säbel. Aber ganz am Schluss erscheint sein Geist noch einmal auf der Bühne und verhöhnt den Gaukler.

Die Uraufführung im Théâtre du Chatelet war ein Riesenerfolg für alle Beteiligten. Mit „Petruschka“, dem „Feuervogel“ und dem „Sacre“ begründete Strawinsky seinen Weltruhm als einer der wichtigsten Komponisten des 20.Jahrhunderts. Davon unbeeindruckt schrieb ein Autor in der zwölfbändigen Ausgabe von „Meyers Lexikon“ 1923: „Strawinsky schrieb oft absichtlich banal und primitiv“ – die Kulturdiktatur der Nazis lag bereits in der Luft. Später stuften sie seine Musik dann als „entartet“ ein. Abgesehen von der bösartigen Banausenhaftigkeit dieses Urteils: die Musik Strawinskys ist alles andere als banal und primitiv! Sie ist im Gegenteil hochkomplex, rhythmisch und instrumentatorisch raffiniert und wird auch am kommenden Donnerstag (11.05.) das Publikum begeistern, wenn sie von der Gastdirigentin Gianna Fratta im Trui Teatre dirigiert wird. Wenn Sie vorab mal reinhören wollen: bei YouTube gibt’s eine Aufnahme unter der Leitung von Pierre Monteux, der bereits 1911 die Uraufführung dirigiert hatte. Authentischer geht’s kaum! - Davor erklingt das dritte Klavierkonzert von Prokofjew. Meine Einführung dazu können Sie hier noch einmal lesen. Karten gibt‘s wie immer über die Webseite der Sinfoniker.