Wie bei kaum einem anderen Stück, ist bei Beethovens 4.Klavierkonzert bereits der erste Ton allentscheidend. Wilhelm Backhaus hat einmal gesagt, es vergehe kein Tag, an dem er nicht einmal versuche, den Anfang des G-dur-Konzerts zu spielen. Und eigentlich sei er noch nie restlos zufrieden damit gewesen. Gestern Abend wäre er mit der Art, in der Lisiecki das Konzert anging, sicher zufrieden gewesen: hochkonzentriert (und dabei unverkrampft) gelang es ihm, nach einem kurzen Moment der Sammlung, mit dem ersten Akkord und den nachfolgenden vier Takten die Zuhörerinnen und Zuhörer im ausverkauften Halbrund des Innenhofes von Schloss Bellver in die magischen Kreise des Geheimnisvollen, eines lyrischen Versprechens sozusagen, zu ziehen. Und ab Takt fünf, mit dem Einsetzen des Orchesters, war klar: hier haben sich zwei gefunden, die das Publikum auf eine faszinierende Reise in die Wunderwelt Beethovens mitnehmen.
Fein abgestufte Dynamik, verbunden mit höchster Anschlagskultur, sind ein Markenzeichen Lisieckis. Selbst wenn er das Ende einer Phrase smorzando und mit einem gezielten Rallentando im Nichts verschwinden lässt, bleibt die große Line des Architekten Beethoven hörbar präsent. Der Satz zerfällt nicht in einzelne „schöne Momente“, sondern bleibt ganzheitlich erlebbar. Dass das alles mit unfehlbarer, makelloser Technik vonstattengeht, muss man bei einem Pianisten dieser Klasse nicht extra betonen. – Im zweiten Satz, diesem Dialog der Kontraste, zögerte Lisiecki mit seinen lyrischen Antworten auf die punktierte, fast schroffe „Frage“ des Tutti einige Millisekunden und erzeugte so die Spannung, von der der Satz lebt. Das Finale gestaltete er zu einem Parforce-Ritt durch die Partitur, voller überraschender Details.
Zu dem Konzert, in dem übrigens Schumann „Beethovens vielleicht größtes Klavierkonzert“ sah und das Pianistenkollege Jewgeni Kissin dem fünften vorzieht, haben Größen wie Brahms, Godowsky, Kempff und Backhaus Kadenzen geschrieben. Lisiecki spielte die originale Beethovenkadenz, vielleicht, weil sie sich authentischer in die architektonische Struktur einfügt.
Nach der Pause, im 5.Klavierkonzert (Es-dur, op.73), wurde endgültig klar, dass die Balearensinfoniker eine gute Wahl für den Orchesterpart waren. Eine bessere jedenfalls als die recht dünn aufspielende Academy of St. Martin In The Fields, mit der Lisiecki die Konzerte für die Deutsche Grammophon aufgenommen hat. Was bei diesem gemäßigt „historisch informiert“ auftretenden Ensemble trotz aller Transparenz fast untergeht oder zumindest ziemlich pauschal klingt, setzten Mielgo und die Seinen prononciert in Szene: das Blech (Hörner und Trompeten) markierten Akzente, wie sie so selten zu hören sind. Mielgo schöpfte die ganze klangliche Bandbreite aus, von samtig-seiden im Adagio bis zu heroisch-auftrumpfend bei den triumphalen Themen der Ecksätze. Lisiecki setzte ebenfalls die ganze Palette seiner überragenden Fähigkeiten ein. Er beherrscht lyrisches Legato im Pianissimo ebenso souverän wie brillante Oktavtriller und furiose Läufe, beispilsweise in der Schluss-Stretta des Finales.
Der Jubel des Publikums war fast grenzenlos. Und dann gelang Lisiecki mit der Zugabe noch etwas, was ihm erst mal jemand nachmachen muss: er schaffte es mitten im orgiastischen Applaus mit seinen frenetischen Bravo-Rufen, noch einmal kontemplative Stille zu erzeugen, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören können. Zum Teil mit vorgebeugtem Oberkörper, als wollten sie förmlich in das Klangwunder hineinkriechen, lauschten die Zuhörer atemlos dem Nocturne Nr.5 von Chopin. – Ein ganz großer Abend am Ende einer faszinierenden Sommersaison.
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