Nachdem sich Rossini bereits 1829 als Opernkomponist verabschiedet und die Feder gegen den Kochlöffel eingetauscht hatte (er lebte tatsächlich noch 39 Jahre als Bonvivant glücklich mit Küche und Keller und kreierte statt Opern – 39 hatte er geschrieben – kulinarische Köstlichkeiten wie die heute noch berühmten Tournedos Rossini), lieferten sich die beiden verbleibenden Großmeister der italienischen Oper, Bellini und Donizetti, sechs Jahre lang erbitterte Gefechte um den Belcanto-Thron, die meist zugunsten Bellinis ausgingen. Der triumphierte noch mit seiner letzten Oper „I Puritani“ 1835 am Théậtre Italien in Paris glänzend über den Rivalen. Donizetti zog sich daraufhin einigermaßen frustriert nach Italien zurück – und formulierte binnen weniger Monate seine Antwort auf Bellinis sensationell erfolgreiche Schotten-Oper: „Lucia di Lammermoor“! Am 26. September 1835 konnte er mit diesem Gipfelwerk des Belcanto im Teatro San Carlo in Neapel einen triumphalen Erfolg feiern. Davon bekam Bellini allerdings nichts mehr mit, er starb drei Tage vor der Premiere!
Donizetti war im Zenith seiner Schaffenskraft angekommen. Wie Bellini griff er auf eine Vorlage Sir Walter Scotts zurück. Dessen Romane – Verknüpfungen sentimentaler Geschichten mit reizvollen Elementen der Schauerromantik – waren damals beim Publikum „in“. Nach „The Bride of Lammermoor“ (1819) schrieb Salvatore Cammarano das Libretto, in dem er alle macht- und gesellschftspolitischen Züge eliminierte und auch auf die vielgerühmten Schauer- und Geisterelemente verzichtete. In der auf wenige schlagkräftige Szenen komprimierten Handlung fokussierte sich alles auf das tragische Schicksal der Titelheldin. Liebe, Rache, Wahnsinn und Tod wurden zu zentralen Motiven. Diese Konzeption machte ein Happy-End unmöglich: das Drama schließt mit zwei Sterbeszenen: erst verbleicht die Titelheldin, dann Edgardo.
Die Wirkung beruht weniger auf dem Handlungszusammenhang der erzählten Story, als vielmehr auf den hochgepeitschten Affekten der episodenhaft ausgewählten Situationen.. Donizettis Musik trägt dem Rechnung – ein Grund, warum sich diese Oper für eine konzertante Aufführung besonders eignet.
Nie zuvor in Donizettis Opern – er hatte bereits vier Dutzend geschrieben – war sein Belcanto-Stil so affektgeladen und damit bezwingend. Der durchgehend sinfonisch gehaltene Orchesterpart reflektiert – durch ständige Präsenz des thematisch-motivischen „Materials“ – das psychologische Geschehen, was die Eindringlichkeit enorm steigert.
Besonders deutlich tritt das alles in der legendären Wahnsinns-Szene in Erscheinung, die nicht allein deshalb zum Höhepunkt der ganzen Oper wird. (Abgesehen davon ist sie mit ihren äußersten technischen Schwierigkeiten bis heute ein Prüfstein für alle dramatischen Koloratursopranistinnen!) – Nicht lärmende Raserei ist der vorherrschende Affekt, Lucia ist der Welt abhanden gekommen und zieht sich in ihren Reminiszenzen an eine glückliche Zeit mehr und mehr in sich selbst zurück. Statt Furor ein „lächelndes Entschweben aus dieser Welt“ (Jürgen Schläder in „Meilensteine der Musik“).
„Lucia di Lammermoor“ wurde geradezu ein Modell der romantischen italienischen Musiktragödie, das sogar noch der junge Verdi zum Vorbild nahm. Ihre Bedeutung für sozial-psychologische Themen zeigt sich unter anderem bei Flaubert und Tolstoi, die die Oper an entscheidenden Stellen ihrer Romane „Madame Bovary“ und „Anna Karenina“ als Beispiel für unglückliche Liebe und zerstörte soziale Beziehungen zitieren. Auf den Bühnen der Welt gehört die „Lucia“ heute wegen ihrer effektvollen Tenor- und Sopranpartien (an vorderster Stelle die große Finalarie Edgardos „Tu che a Dio“ und eben Lucias Wahnsinns-Szene) zu den beliebtesten Sängeropern.
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