Carlos Collado Seidel ist Professor in Marburg. | Archiv

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Mallorca Magazin: Wie bewerten Sie den Wandel, den das spanische Parteiensystem in den vergangenen Jahren erlebt hat, Herr Professor Collado Seidel?

Prof. Dr. Collado Seidel: Ein solcher Prozess vollzieht sich in vielen Ländern Europas, in denen das Verhältniswahlrecht gilt. Im Deutschen Bundestag haben sich ja mittlerweile sieben Parteien wohl dauerhaft eingerichtet. In Spanien hatten wiederum kleinere regionale Parteien immer schon eine Vertretung im Parlament. Nun sind aber mit Podemos, Ciudadanos und nun auch Vox weitere, gesamtspanisch agierende Gruppierungen entstanden, die sich etablieren werden, zumal jede eine spezifische Wählergruppe anspricht.

Die spanische Gesellschaft befindet sich seit Jahren in einem Wandel, der den Extremen wachsenden Raum bietet. Der viel gepriesene Geist des Übergangsprozesses, mit dem eingedenk der traumatischen Erfahrung von Bürgerkrieg und Diktatur der Begriff Konsens in aller Munde war, ist verschwunden. Da sehe ich auch keinen Weg zurück zur Zweiparteienherrschaft.

MM: Was hat Ihrer Meinung nach zu diesem Wandel geführt? Was hat den Verschleiß der traditionellen Parteien vorangetrieben?

Collado Seidel: An erster Stelle muss die grassierende Korruption genannt werden, die seit Jahrzehnten immer neue und in den Dimensionen immer größere Skandale ans Licht brachte. Ein solcher führte zum Sturz der regierenden Konservativen im Jahr 2018. Auch die Sozialisten sind in ihren Hochburgen, so in Andalusien, im Korruptionssumpf versunken und dadurch massiv in Misskredit geraten. Hinzu kommt, dass sowohl die sozialistische Partei PSOE als auch die konservative Volkspartei PP nicht mehr in der Lage waren, ihre vielschichtige Anhängerschaft an sich zu binden.

Während die dynamisch auftretende bürgerliche Partei Ciudadanos davon profitiert, nicht zur Erbmasse des Franquismus zu gehören, erkennen jene, die sich dem Erbe der Diktatur verpflichtet fühlen, in Vox eine glaubhafte Alternative. Die PP befindet sich hier in einer Zwickmühle. Die PSOE konnte wiederum einer durch Finanz- und Wirtschaftskrise geschüttelten Gesellschaft nicht mehr glaubwürdig vermitteln, für soziale Gerechtigkeit zu stehen. Das bedingte den Höhenflug von Podemos.

MM: Ist das eine eher beunruhigende Entwicklung, weil die Regierbarkeit des Landes komplizierter wird? Oder hat das auch positive Seiten? Begünstigt die neue Situation möglicherweise die Kompromissfähigkeit der spanischen Parteien?

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Collado Seidel:Es ist sehr beunruhigend. In der Praxis der Regierungsausübung seit der Demokratisierung vor über vier Jahrzehnten stellt die Partei mit den meisten Parlamentsabgeordneten die Exekutive. Abgesehen von jenen Wahlperioden mit einer absoluten Parlamentsmehrheit ging das solange gut, wie die Regierungspartei auf die Tolerierung durch einen oder mehrere kleine Partner angewiesen war. Auch haben sich die katalanischen Parteien über Jahrzehnte an dieser Praxis im Tausch gegen Zugeständnisse beteiligt. Dem sozialistischen Ministerpräsidenten Pedro Sánchez gelang das mit seiner Minderheitsregierung nicht mehr, war er doch auf allzu viele und ideologisch heterogene Mehrheitsbeschaffer angewiesen. Zudem hat sich seit 20 Jahren die politische Auseinandersetzung kontinuierlich polarisiert, auch zwischen PP und PSOE. Von Kompromissfähigkeit, wie etwa in der Bundesrepublik, kann keine Rede sein. Dies war auch einer der Gründe für das Scheitern von Sánchez. Hieran wird sich künftig nichts ändern. Das sind keine guten Aussichten.

MM: Wie bewerten Sie das Aufkommen von Vox? Erklärt sich dieses allein mit dem Katalonienkonflikt?

Collado Seidel: Daran kann kein Zweifel bestehen. Der Umschwung hin zu einem offen vertretenen spanischen Nationalismus, dem „Españolismo“, war unübersehbar, als mit den dramatischen Ereignissen vom Herbst 2017 an den Fassaden der Wohnblöcke flächendeckend spanische Flaggen zur Schau gestellt wurden. Solche emotional aufgeladenen symbolischen Bekenntnisse kannten wir bis dahin allein aus Katalonien und dem Baskenland. Doch letztlich trat in der aufgeheizten Stimmung lediglich jenes zutage, was schon seit Langem unter der Oberfläche schwelte. Für viele Spanier hat die Regierung unter dem konservativen Ministerpräsidenten Mariano Rajoy allzu zögerlich auf die Unabhängigkeitsbestrebungen reagiert.

Der Migration kommt da derzeit eine nachgeordnete Bedeutung zu. Eine starke Zuwanderung aus Afrika oder Lateinamerika ist in Spanien ein Phänomen, das schon seit 20 Jahren besteht. Die vielen soziologischen Untersuchungen, die mit einer Vielzahl von Argumenten eine stabile politische Stimmung diagnostiziert haben und keinen Raum für rechtsextreme Parteien erkannten, sind Lügen gestraft worden. Franquismus und Nationalismus waren und sind in Spanien stark verwurzelt. Jetzt erst trauen sich die Menschen aber, ungeniert Flagge zu zeigen.

Die Fragen stellte Jonas Martiny.

Zur Person

Prof. Dr. Carlos Collado Seidel ist seit 2011 außerplanmäßiger Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Philipps-Universität in Marburg sowie Generalsekretär des Schriftstellerverbandes PEN-Zentrum Deutschland.

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