Nur spärlich fällt Licht durch die Oberfenster in die Stoffwerkstatt in Santa Maria del Camí. Von den grob gemauerten Steinwänden hallt pausenloses Hämmern und Dröhnen. Haben sich die Augen erst einmal an das Dämmerlicht gewöhnt, zeichnen sich in staubiger Luft eine Reihe alter gusseiserne Webmaschinen ab. Dort nehmen sie Faden für Faden Gestalt an, die ‚Telas de lengua’, bunt gemusterte Stoffe, die es nur auf Mallorca gibt.
Flammen- oder Zungenstoffe heißen die segeltuchartigen weißen Textilien auf Deutsch. Nur von knapp einer Handvoll Webereien werden sie noch auf der Insel gefertigt und vorwiegend für die Innendekoration verwendet. Kaum ein Haus kommt ohne Vorhänge, Kopfkissenbezüge oder Bettüberwürfe in bewährter Flammenoptik, meist in Blau oder Gelb, aus. „Der Name für den Stoff stammt von den unscharfen Konturen der farbigen Muster, die an Flammen erinnern”, erklärt Werkstattchef Guillermo Bujosa, dessen Vater die Textilwerkstatt 1949 gründete.
Von Kindesbeinen an arbeitete der 75-Jährige in der Werkstatt, lernte das Färber- und Weberhandwerk von der Pike auf. Auch mit der Historie des bei Touristen beliebten textilen Mitbringsels ist er bestens vertraut. „Auf Mallorca gibt es die Stoffe seit dem 18. Jahrhundert, 1740 wurden sie erstmals schriftlich erwähnt”, sagt er. „Die Mallorquiner haben sie vermutlich von den Arabern übernommen. Darauf deuten die geometrischen Muster hin, wie man sie häufig in Turkmenistan, Afghanistan und anderen Ländern entlang der Seidenstraße findet”, ergänzt er. Ähnliche Stoffe mit den typischen verlaufenden und ungleichen Mustern findet man auch auf Bali, in Japan und Lateinamerika. Anders als auf Mallorca werden sie dort aber vor allem für Kleidung verwendet.
Ikats lautet der Oberbegriff für diese Weberzeugnisse, die mit einer speziellen Technik gefärbt werden. Das Wort ist aus dem Malaiischen abgeleitet und bedeutet „binden, umwickeln“. Im Unterschied zur Batik-Technik werden für Ikats aber keine Stoffflächen abgebunden, sondern nur einzelne Fäden oder Fadenstränge. „Die Stellen, die farbfrei bleiben sollen, werden mit einem speziellen Papier geschützt”, erklärt Bujosa. Beim Färben breitet sich die Farbe nicht an allen Stellen der Fasern gleichmäßig aus, so dass hellere und dunklere Farbnuancen zurückbleiben.
Früher wurden natürliche Färbstoffe wie Indigo oder Färberdisteln verwendet. Die Werkstatt hat diese Relikte der Vergangenheit in fein säuberlich beschrifteten Glasbehältern für Besucher aufbewahrt. Denn seit mittlerweile 25 Jahren greift man auf Chemie aus deutscher Produktion zurück. „Die Farben sind preisgünstiger und haltbarer. Sie bleichen beim Waschen oder durch Sonneneinstrahlung nicht so schnell aus”, erklärt Bujosa.
Die gefärbten Baumwollstränge werden anschließend geschleudert, getrocknet und dann weitgehend von Hand auf Spulen gewickelt. Dafür ist Bujosa zuständig, dem die Friemelei sichtlich Spaß macht. Im nächsten Schritt wachsen die Fäden an den museumsreifen Webmaschinen zu langen 70 Zentimeter breiten Stoffbahnen heran. Die vertikalen Kettfäden bestehen aus Leinen, die horizontalen Schussfäden, die das Muster ins Textil zeichnen, aus Baumwolle. „Unsere Maschinen stammen größtenteils aus England und sind so alt wie die industrielle Revolution”, erzählt Bujosa. Ersatzteile gibt es nur selten. „Wenn es mal im Getriebe hakt, müssen wir improvisieren.”
Bislang ist das immer gut gegangen. Vier Mitarbeiter hat der kleine Betrieb, auch Lehrlinge werden ausgebildet. Im Monat produzieren sie rund 50 Quadratmeter des mallorquinischen Textils, das gleich im Laden nebenan verkauft und in die ganze Welt verschickt wird. Die Preise variieren. „Je mehr Farben verwendet werden, desto teurer wird der Stoff. Die klassische Variante in Blau oder Gelb kostet 29 Euro pro Quadratmeter”, sagt Bujosa. Seine Werkstatt ist übrigens die Einzige auf der Insel, die Flammenstoffe nicht nur aus Baumwolle, sondern auch aus Seide produziert. „Das dauert wegen der feinen Fäden deutlich länger. Der Stoff kostet um die 40 Euro pro Quadratmeter”, ergänzt er.
An Kunden scheint es nicht zu mangeln. Der Laden ist schon am Vormittag recht gut gefüllt. „Besonders beliebt sind die klassischen Stoffvarianten”, sagt Maribel Bujosa, Tochter des Chefs und Hüterin des Geschäfts. Es kommen Mallorquiner genauso wie Touristen, viele davon aus Deutschland, denn Handgemachtes liegt im Trend. Sie begutachten Brotkörbe für 20 Euro, Rucksäcke für 30 Euro, Taschen für 50 Euro oder Schals mit handgewebten Fransen für 100 Euro. „Wir fertigen aber auch individuell nach Kundenwünschen”, sagt die 45-Jährige.
Neben Privatleuten zählen auch mallorquinische Boutique-Hotels oder Caféhaus-Ketten zu ihren Kunden. Und manche der Textilien aus dem Hause Bujosa haben ihren Weg sogar als Exponate in internationale Museen in Basel und Kalifornien gefunden. Dass die Nachfrage künftig ausbleibt, steht also offensichtlich nicht zu befürchten. Dazu tragen auch die Medien bei. Internationale Mode- und Design-Magazine wie Architectural Design, Marie Claire oder Architektur & Wohnen haben über die Werkstatt berichtet, auch das deutsche Fernsehen war schon da.
Produktdiversifizierung scheint das Schlagwort für die Zukunft der textilen Tradition zu sein. Statt auf reine Innendekoration zu setzen, erweitert nicht nur die Werkstatt in Santa Maria del Camí ihre Produktpalette nach und nach. „Teixits Vicents” in Pollença, die Konkurrenz im Norden der Insel, versucht sich seit Kurzem in der Kreation von Kleidung und Schuhwerk aus Flammenstoff. Außerdem im Sortiment: Geschirr mit Flammenmuster-Aufdruck, Platzdeckchen, Küchenschürzen, Uhrarmbänder oder Geldbörsen.
In Artà verkauft Isabel Sancho in ihrem Geschäft „Artartà” Kleider und Röcke aus Flammenstoff, allesamt Unikate der mallorquinischen Designerin Aina María Esteva, die ihre Produkte auch im Internet (www.11ikat.com) anbietet. Man darf gespannt sein, in welcher Form die ‚Telas de lengua’ als Nächstes auftauchen.
(aus MM 37/2018)
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