"Bei uns wird sie von allen nur ,la beata', die Selige genannt", sagt die Wirtin des Ca'n Paris. Jeder im Ort habe die Nonne gern. Tickets für ein Konzert zu Ehren der Geistlichen werden ebenfalls am Tresen verkauft. Zehn Euro kostet das Billett. An diesem Wochenende steht der große Festtag der nahezu Heiligen an: Am Samstag, 27. Februar, werden um 11 Uhr im Beisein von Hunderten von Schaulustigen Schulkinder Blumen am Standbild der Francinaina Cirer niederlegen. Für Sonntagabend ist um 18.30 Uhr in der Kirche das Konzert angesetzt, bei dem die katalanische Sängerin Marina Rossell Lieder in Würdigung verfolgter Frauen singt. Am Vormittag findet ein Volkslauf mit Benefiz-Charakter statt, hinzu kommen Messen, Vorträge, Ausstellungen ...
Wer den Bildnissen der Nonne durch Sencelles folgt, der gelangt durch Straßen, die viel vom ursprünglichen Charakter des Ortes bewahrt haben. Die meisten Häuser sind zweigeschossig und mit Ziegeln gedeckt, grüne Klappläden und Holztüren gestatten mitunter einen Blick ins Innere, hinter den Glasscheiben der antiquierten Windfänger sind gewebte Vorhänge aus weißen Stoff wahrzunehmen. Schon Erzherzog Ludwig Salvator hatte vermerkt, dass die Eingänge der Häuser Rundbogen aufwiesen, und bei den ältesten Häusern, die sich nach wie vor unverputzt in Naturstein präsentieren, ist das auch definitiv der Fall.
Je weiter man sich vom neuralgischen Zentrum aus Kirche, Rathaus und Ca'n Paris entfernt, desto spärlicher werden die wenigen Cafés und Läden. Plötzlich steht man vor dem Geschäft, in dem die Landwirte der Umgebung Düngemittel, Tierfutter und Gerätschaften aller Art, aber auch Lebensmittel und Weine erwerben können. Wie anno dazumal warten dort ganze Flechtkörbe voll mit Linsen und Bohnen auf Kunden. Die Hülsen- und Trockenfrüchte werden per Kelle und Waage in Tüten geschaufelt und verkauft. Margalida Llabrès führt in dem Magatzem Ca'n Ren-yina nicht nur das Regiment, sondern ist eines von 25 Mitgliedern, die jedes Jahr den Ehrentag der seligen Nonne veranstalten.
"Man darf sich nicht täuschen lassen", antwortet Llabrès, ob der strenge Blick der Nonne nicht auch Furcht auslöse. "Damals gab es keine Kameras. Die Abbildung beruht auf einem Kirchengemälde, das seinerzeit mit dem entsprechend Ernst angefertigt wurde." Tatsächlich sei Francinaina eine sehr fröhliche Frau gewesen, die viel gelacht habe. "Sie war ihrer Zeit weit voraus", sagt Llabrès, "sie wusste, wie wichtig Bildung ist, und brachte den Kindern des Dorfes Lesen und Schreiben bei." Für die damalige Zeit geradezu revolutionär: Die Geistliche unterrichtete die Jungen und Mädchen gemeinsam und hielt ihre Schulstunden auch im Freien auf den Feldern ab, damit die Kleinen ausreichend Bewegung hatten. Jeder Ausflug endete mit einer kleinen Tanzeinlage, bei der die Kinder Boleros und Jotas lernten. Die Nonne, die selbst aus einer örtlichen Bauernfamilie stammte, habe mitten im Leben gestanden, so Llabrès. "Sie wusste, was wichtig ist: lernen, arbeiten - und Vergnügungen haben."
Die volkstümliche wie praktische Art, wie Francinaina das Leben anpackte, scheint sich in Sencelles erhalten zu haben, ungeachtet der Aufs- und Abs, die die Landgemeinde der Inselmitte im Lauf der Zeiten registrierte. Mit dem Niedergang der Landwirtschaft sank die Einwohnerzahl 1991 auf 1665, während sie etwa 1750 noch mit 2829 Personen noch fast doppelt so hoch gewesen war. Vor allem junge Menschen zogen weg und suchten sich Jobs im aufstrebenden Bau- und Tourismussektor.
Ein Zeugnis von dem Niedergang legt auch die Werkhalle der Firma Osca ab. Kaum zu glauben, aber in dem Ort wurden von 1946 an eiserne Kräne und Mähdrescher gefertigt. Heute ist in der ebenso heruntergekommenen wie denkmalgeschützten "Fàbrica" eine kleine Schweißerei eingemietet, die an die industrielle Tradition des Ortes erinnert. Bereits 1928 wurden in Sencelles zudem Konserven hergestellt.
Mittlerweile hat sich die Bevölkerungsentwicklung umgekehrt, viele Städter bevorzugen für ihre jungen Familien das Leben auf dem Land. Gewohnt wird im Dorf, gearbeitet in Palma. Wie jung der Ort ist, erkennt man weniger am Straßenbild als an dem modernen Schul- und Sportgelände, das angesichts der Größe des Dorfes durchaus überrascht. Mittlerweile liegt die Einwohnerzahl bei 3100. Unter den Gemeldeten sind auch 210 Deutsche zu finden, die meist Fincas im Umland bewohnen, sowie 150 Briten.
Wer das Rathaus betritt, stößt an einem der Schalter auf Andreas Mathis. Der Österreicher ist dort zuständig für das Registrieren der Anträge auf Mülltrennung, ein Projekt, das zum Teil von der Europäischen Union getragen wird. Mathis, verheiratet mit einer Mallorquinerin, lebt seit Jahren in Biniali, einem kleinen Weiler, der wie Ruberts und Jornets ebenfalls dem Rathaus untersteht. "Das Dorf lag früher abseits der Verkehrswege, und die Landstraße hierher ist erst vor wenigen Jahren ausgebaut worden. Vielleicht hat die Isolation dazu beigetragen, das ursprüngliche Ortsbild zu bewahren", sagt Mathis. Nach seinen Worten ist Sencelles bei Radsporttouristen beliebt, die jene verkehrsarmen Landstraßen im Inselinnern zu schätzen wissen, sowie bei Besuchern, die authentische Gerichte und Weine bevorzugen.
Das edel eingedeckte Restaurant Sa Cuina de N'Aina etwa lockt mit Autoren-Küche; das vor wenigen Jahren von einem Punkrocker eröffnete Molico in einer der historischen Mühlen des Ortes verführt zudem mit seiner Panorama-Aussicht auf das Tramuntana-Gebirge jenseits der Zentralebene.
Unweit der Kirche ist das Weingut Can Ramis zu finden. Gegründet 1870, wird es heute in vierter Generation von Pere Llabrès betrieben. "Wir produzieren einen Rot- und einen Weißwein in der Flasche. Daneben verkaufen wir einen Rosé direkt vom Fass an Kunden, die ihr eigenes Behältnis mitbringen - so wie das früher überall üblich war", erzählt der Winzer.
Im vergangenen Jahrzehnt kamen weitere Bodegas hinzu, wie Binigrau, Son Prim oder Ca Sa Padrina, die ihre Gewächse im Umland keltern. Jüngst haben sich auch Belgier in einer Landfinca dem Brauen von Bier verschrieben, das sie jeden Samstag auf dem Markt im Ort anbieten.
Die Bodega Can Ramis, die bis vor zwei Jahrzehnten auch ein gleichnamiges Restaurant aufwies, liegt nicht nur in der Straße, die nach der seligen Nonne benannt ist; das Gebäude gehörte einst Angehörigen des Dorfpfarrers, der wiederum Beichtvater der Schwester Francinaina war. Er unterstützte sie in ihrem Vorhaben, ihr eignes Haus, das sich wiederum nur ein paar Schritte entfernt befindet, in ein Kloster der Mildtätigkeit zu verwandeln, was 1851 geschah. Noch heute leben in dem Haus einige hochbetagte Nonnen in der Tradition der Ordensgründerin. Der kleine Konvent mit historischer Küche und Gerätschaften kann im Winterhalbjahr von Dienstag bis Sonntag besichtigt werden.
"Die Beata ist keine Kirchenheilige aus grauer Vorzeit. Sor Francinaina lebte im 19. Jahrhundert und ist darum vielen Sencellers zeitlich nah", sagt Bürgermeister Joan Carles Verd. Es gebe in jeder Familie viele Überlieferungen, und bald wurde die volkstümliche Ordensschwester auch nach ihrem Tod in Notlagen per Stoßgebet um Hilfe angerufen. Man dürfe nicht vergessen, betont der Alkalde, dass es damals keinen staatlichen Versicherungsschutz gegen Unfälle und Krankheit, keinerlei Rente und Absicherung gegeben habe. "Da hat die selbstlose Mildtätigkeit und Hilfsbereitschaft der Frau bleibenden Eindruck auf die Zeitgenossen und ihre Nachkommen hinterlassen."
(aus MM 9/2016)
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