Rattenlinien: So nannten die US-Militärs und -Geheimdienste nach dem Zweiten Weltkrieg die Routen, auf denen Nazis nach Südamerika flohen. Unter anderen über Franco-Spanien. Darum geht es in dem Roman „Los pacientes del doctor García” (Die Patienten von Doktor García) von Almudena Grandes, der jetzt verfilmt wurde. Im Mittelpunkt stehen zwei Republikaner, die ein solches Fluchtnetzwerk infiltrieren. Die zehnteilige Serie ist am gestrigen Mittwoch auf La 1, dem ersten Programm des spanischen Fernsehens, an den Start gegangen. In der spanischen Originalversion wird sie immer mittwochs um 22.15 Uhr ausgestrahlt und kann in der Mediathek des Senders, RTVE Play, abgerufen werden. Am Freitag, 28. April, steht die Serie zum Streaming bei Netflix bereit – auch in deutscher Version. Eine der Rollen wurde mit Carmen Molinar besetzt. Die deutsche Schauspielerin lebt in Cala Rajada.
Mallorca Magazin:Sie spielen in der Serie die Ingrid Weiss. Wer ist diese Figur?
Carmen Molinar:Sie ist die rechte Hand von Clara Stauffer, einer Deutsch-Spanierin, die es wirklich gegeben hat. Sie hatte eine Organisation gegründet, die Nazis zur Flucht über das Franco-Spanien nach Argentinien verhalf. Ingrid Weiss ist aus vollster Überzeugung dabei. Man lernt sie eher als Dienerin von Clara Stauffer kennen, am Ende merkt man aber, dass sie sehr viel mehr ist.
MM:Wie sind Sie zu dieser Rolle gekommen?
Molinar:Es gab europaweit ein großes Casting. Ich habe im Nachhinein von vielen deutschen Kolleginnen erfahren, die auf meine Rolle gecastet wurden und auch super gepasst hätten. Ich hatte einfach das große Glück, dass ich scheinbar genau der Typ war, den sie haben wollten.
MM:Die Figur der Ingrid Weiss ist ihrer Persönlichkeit sehr entgegengesetzt. Wie war das für Sie, diese Rolle zu spielen?
Molinar:Als erstes habe ich mich gefragt, ob ich überhaupt eine böse Nazi-Rolle übernehmen will. Einer der Gründe, warum ich mich dafür entschieden habe, war, dass die Serie die Verfilmung eines Romans von Almudena Grandes ist. Und sie ist eine der bedeutendsten spanischen Produktionen, die dieses Jahr herauskommen. Mein Credo war schon immer: Die Rolle selbst ist mir nicht so wichtig, wenn ich das Projekt gut finde. Mir geht es immer um das Endergebnis. Und da gehören nun einmal Charaktere dazu, die ganz anders sind als man selbst. Ich versuche aber immer, auch etwas zu finden, was ich an dem Charakter mag. Und obwohl Ingrid für etwas steht, was mir ganz fern ist, mochte ich an ihr, dass sie sehr akkurat und hilfsbereit ist und dass sie ganz klar weiß, wofür sie steht.
MM:War es schwierig, diese Rolle zu spielen?
Molinar:Als Schauspielerin versuche ich, für einen Moment diese Person zu sein. Als Außenstehende muss ich diesen Charakter also zunächst komplett analysieren. Und erst wenn ich verstanden habe, warum ist sie so, wie sie ist, gehe ich in die Rolle rein. Dann kommt die größte Schwierigkeit: Zu der Person zu werden und im Idealfall zu jedem Zeitpunkt auch unterbewusst mit der Rolle verbunden zu sein. Das bedeutet, dass man für einen bestimmten Zeitraum nicht so tut, als ob, sondern wirklich hinter etwas steht, hinter dem Carmen nicht steht.
MM:Wo ist es Ihnen besonders schwer gefallen, die Rolle zu erarbeiten?
Molinar:Es gab zwei wirklich schwierige Momente für mich. Das eine war der Hitlergruß. Wie soll ich den, bitteschön, üben? Nur weil man ihn unzählige Male im Film gesehen hat, kann man ihn ja noch nicht nachmachen. Ich habe erst einmal recherchiert, wie der Gruß korrekt gemacht wird, habe mir viel Filmmaterial angeguckt, und zwar Dokumentationen. Dann habe ich die Klappläden zu Hause geschlossen und geübt. Ich hatte das Gefühl, ich tue etwas ganz Schlimmes. Mir rumort es immer noch im Magen, wenn ich daran denke. In der Rolle hatte ich dagegen überhaupt kein Problem, da war ich dann drin.
MM:Was war der zweite schwierige Moment?
Molinar:Mein Charakter singt in einer Situation mit ihren Nazi-Freundinnen das Horst-Wessel-Lied (zunächst Kampflied der SA, dann Parteihymne der NSDAP und in Deutschland verboten; Anm. d. Red.). Den Text zu lernen ist eine Sache, aber das Lied auch zu singen, und zwar so, als würdest du es oft tun – wo übst du das? Ich bin dann mit dem geschlossenen Cabriolet zwischen Cala Rajada und Palma hin- und hergefahren und habe es da gesungen. Ich hatte so eine Angst, dass das jemand hört! Das Gemeine ist, dass die Melodie ein Ohrwurm ist, wenn du sie oft singst. Und meine Sorge war, dass sich sie auf einmal summe. Ich hatte mir das Lied so intensiv erarbeitet, dass ich dachte: Hoffentlich geht das schnell wieder weg! Und zum Glück war es so. Eine Woche, nachdem ich das Lied das letzte Mal am Set gesungen hatte, hatte ich es nicht mehr im Kopf.
MM:Verändern Sie sich während der Dreharbeiten, wenn sie so sehr in Ihre Rollen hineingehen?
Molinar:Montse Sancho, die Chefin der Kostümabteilung, sagte zu mir, dass sie noch niemanden gesehen habe, der mit dem Anlegen des Kostüms einen so großen Wandel vollzogen hat. Ich ging ab dieser Sekunde sogar anders und die Mimik wurde anders. Bei Rollen, die ich sehr schwierig finde, gehe ich zwischendurch auch nicht raus, wenn ein Cut ist. Ich behielt das Kostüm den ganzen Drehtag über an, selbst in der Mittagspause. Erst abends legte ich die Rolle mit dem Kostüm ab.
MM:Das Original ist auf Spanisch. Sie haben sich selber auf Deutsch und auch auf Amerikanisch synchronisiert. Wie war das?
Molinar:Wenn ich mich selber synchronisiere, nehme ich das wie einen erneuten Dreh. Ich bereite das so vor, als würde ich wieder an den Set gehen, damit ich wieder drin bin und genau weiß, auf was ich reagiere. Wir haben die deutsche Synchronisation bei der Interopa in Berlin gemacht. Und ich bin ihnen sehr dankbar, dass sie ganz viel auf mich gehört haben. Wenn ich das Gefühl hatte, dass etwas nicht passte oder dass der Hintergedanke ein anderer war, dann haben sie immer gesagt: „Keiner kennt die Rolle besser als du.“ Das war eine ganz tolle Zusammenarbeit, und dadurch glaube ich, dass die deutsche Version wirklich eins zu eins wie die spanische ist, was mein Gefühl betrifft.
MM:Macht es einen Unterschied, ob Sie an einem spanischen oder an einem deutschen Set drehen?
Molinar:Mir fiel auf, dass bei diesem für uns Deutsche so schwierigen Thema die Spanier viel unbefangener mit Humor umgingen. Wenn sie einen Witz über das Thema machten, dann hatte das nichts mit ihnen zu tun. Da gab es ganz skurrile Situationen. Denn je dramatischer das ist, was du spielst, desto mehr musst du in entscheidenden Momenten einfach mal lachen, weil der Druck raus muss. Ich glaube, an einem komplett deutschen Set wäre das anders gewesen. Gerade meine Generation ist so erzogen, dass man über etwas, das mit dem Nationalsozialismus zu tun hat, nicht lacht.
MM:Spielen Sie lieber eine fiese oder eine gute Rolle?
Molinar:Ich mag beides sehr. Das ist ja das Tolle an unserem Beruf: Wir müssen uns nicht entscheiden. Eine größere Schwierigkeit ist es, wenn du jemanden mit tiefen Abgründen spielst, die du im Idealfall für einen kurzen Moment auch lebst. Das würde ich nicht so oft wollen. Denn es bleibt oft etwas zurück, ob wir wollen oder nicht, gerade wenn es um Dinge geht, die dich ganz tief innen berühren. Man kann nicht immer alles abstreifen.
MM:Und Ingrid Weiss?
Molinar:In dem Fall mache ich mir keine Sorgen. Ingrid ist so was von weg (lacht)!
Das Interview führte Martin Breuninger.
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