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Es ist Winter in Bremerhaven. Neele, Zimmerin und seit mehr als einem Jahr reisende Handwerksgesellin aus Niedersachsen, bekommt von der Polizei deutlich gemacht, dass sie hier zwischen den Weihnachtsmarktständen keinesfalls übernachten darf und sich deshalb zusammen mit ihrer Kollegin etwas anderes suchen müsse. Mittlerweile ist es nach Mitternacht, die Temperaturen liegen unter dem Gefrierpunkt und es will sich einfach keine Möglichkeit auftun. „Platte machen”, also auf der Straße übernachten, ist heute auch keine Option. Obwohl ihre Kluft, also die traditionelle Kleidung der Gesellin, aus dickem schwarzen Cord gearbeitet ist, kriecht die Kälte erbarmungslos durch den Stoff. Eine Winterjacke darüber zuziehen, ist keine Option. Es ist schlicht nicht erlaubt, denn man muss in der Öffentlichkeit stets als „Geselle auf Wanderschaft” erkennbar sein. Keine Ausnahmen! Auch der schwarze Zylinder, ein Zeichen der Freiheit, wird einzig in Demut vor dem Essen und dem Koch, der das Mahl zubereitet hat, abgenommen. Sonst bleibt er immer auf den langen, zum Zopf gebundenen Haaren.

Im Moment hält der Hut wenigstens die dicken Schneeflocken fern. Die Nacht wird dunkler und der Wind bissiger, als die beiden Frauen in einem Akt der Verzweiflung einen Hotel-Portier fragen, ob es möglich sei, in der Tiefgarage des Hauses zu übernachten. Man habe Pappe als Unterlage dabei und würde auch niemanden belästigen. „Muss ich fragen”, sagt der Portier und nimmt mit einem vielsagenden Blick das Telefon ans Ohr, um den Manager zu dieser unchristlichen Zeit zu wecken. Dieser kommt Minuten später im Bademantel mit den Worten: „Das geht auf keinen Fall” in die Lobby gestürmt. Die Frauen wollen sich gerade umdrehen und erneut in die kalte Nacht hinaus, als der Hotel-Chef sie festhält und sagt: „Ich lasse nicht zu, dass Ihr in der Tiefgarage schlaft. Ich habe aber noch ein Zimmer mit Meerblick frei.

Eine halbe Stunde später liegen Neele und ihre Mitreisende frisch geduscht im weichen Bett und schauen auf den Hafen und das dunkle Wasser. Fassungslos darüber, wie sie hier gelandet sind, fasziniert davon, wie sich durch nur eine Begegnung alles verändern kann und dankbar dafür, dass es eben doch viele gute und hilfsbereite Menschen gibt.

Neeles Anekdote ist nur eine von unzähligen, die sie, und wahrscheinlich auch jeder andere der rund 20 Wandergesellen hier zum Besten geben könnte. Die jungen Männer und Frauen sitzen, jeweils ein großes Bier vor sich stehend, heute vor der iberischen Taverne „Donde el Paisi” in Palma. „Wir haben hier ein Treffen des Fremden Freiheitsschacht”, erklärt Paul. Eine 1910 gegründete Vereinigung, die den Brauch der Wanderschaft für Bauhandwerksgesellen am Leben hält. Paul ist 21 Jahre alt, kommt aus der Nähe von Würzburg und hat, wie alle anderen hier, keinen Nachnamen. „Nee, einfach Paul, das reicht.” Es sei Tradition, seinen Nachnamen abzulegen, wenn man die Reise beginnt. Ein Überbleibsel aus der alten Zeit, in der ein Nachname meist viel über den Stand eines Menschen verriet. „Wir sind hier alle gleich!” Es spiele keine Rolle, wo man herkomme, welches Geschlecht man habe, welchen Glauben man vertrete oder zu welcher Ethnie man gehöre. Jeder deutsche Handwerker mit einem Gesellenbrief könne auf die sogenannte „Walz” gehen, solange er oder sie ehelos, schuldenlos, kinderlos und nicht vorbestraft sei.

Die etwa 1000 Jahre alte Tradition der Wandergesellen gibt es in mehreren europäischen Ländern. Am stärksten werde sie jedoch in Deutschland, Österreich und der Schweiz gepflegt. Europaweit, schätzt Paul, sind heute zwischen 500 und 700 Wandergesellen unterwegs. „Wer auf die Walz geht, muss das für mindestens drei Jahre und einen Tag tun. In dieser Zeit darf er nicht näher als 50 Kilometer an seinen Heimatort. Man besitzt kein Mobiltelefon und keine Bankkarte. Außerdem dürfen wir kein Geld für das Reisen oder die Unterkunft ausgeben.” Dennoch schafften es die Gesellen per Schiff oder Flugzeug nach Mallorca. „Das Ticket wurde von meinem letzten Arbeitgeber bezahlt”, sagt einer der „Walzer”.

Seinen Lebensunterhalt bestreitet ein Wandergeselle mithilfe seines Gewerkes. „Man sucht sich Arbeit und handelt etwas aus. Dabei darf man maximal drei Monate an einem Ort bleiben.” Zusätzlich gehe man dem Brauch nach ohne Geld auf die Walz und komme auch ohne Geld wieder zurück. „Es ist arbeiten, um zu reisen, und reisen, um zu arbeiten. Es geht dabei um Demut, Dankbarkeit und vor allem um Freiheit.”

Das Treffen, das Paul hier in Palma organisiert hat, ist nur für die Mitglieder seines Schachtes. Nichtsdestotrotz haben sich unzählige Handwerksgesellen auf den Weg gemacht, um sich am Rande des Treffens mit den Brüdern und Schwestern auszutauschen. „Normalerweise machen wir das in Deutschland. Irgendjemand meinte dann, Mallorca gehört ja auch fast zum Bundesgebiet, und jetzt sind wir hier”, schmunzelt der Handwerker.

Neben den Erkennungsmerkmalen, die wohl nur dem geübten Gesellen-Auge auffallen, sind es vor allem die Farben der Kluften, die hier vor der Taverne die verschiedenen Gewerke sichtbar machen. Am häufigsten vertreten ist das Schwarz. Es ist die Farbe des Holzhandwerks, also die der Zimmerer, Schreiner oder Tischler. Handwerker, die mit Metall arbeiten, tragen Blau. Grau sowie Beige gehört unter anderem den Steinmetzen, Maurern oder Steinbildhauern. „Es gibt noch viel mehr. Die sieht man nur nicht so häufig”, erzählt Sophia, die eine rote Jacke trägt. „Ich bin Kirchenmalerin, von uns gibt es keine Handvoll auf Wanderschaft.” Sie sitzt neben Victoria, fremd freireisende Schreinerin aus dem Altmühltal. „Meine Mama kommt aus Peru, deshalb spreche ich Spanisch. Das ist definitiv ein Vorteil hier auf der Insel.” Während in Deutschland die meisten etwas mit dem Erscheinungsbild eines Wandergesellen anfangen können, würden die meisten Spanier oder Mallorquiner so etwas zum ersten Mal sehen. „Wir kommen gerade aus dem südlichen Teil der Insel. Dort hat uns vergangene Nacht ein Mallorquiner in seinem Garten übernachten lassen. Der konnte sogar ein paar Worte Deutsch. Das war vielleicht ein Durcheinander der Sprachen”, lacht Victoria und Sophia ergänzt: „Wir bekommen während unserer Wanderschaft so viel von den Menschen, also der Gesellschaft, geschenkt. Oft auch ohne eine Gegenleistung zu verlangen. Die Idee ist es, mit diesem Gefühl irgendwann heimzukehren, um dann mithilfe der Handwerkskunst einen Teil an die Gesellschaft zurückzuzahlen.”