Ich habe lange darüber nachgedacht, ob ich Ihnen diese Kolumne, gerade in dieser Zeit, zumuten kann, aber ich glaube, dass es kaum eine andere Geschichte gibt, um diese besondere Stimmung der Weihnachtszeit zu würdigen. Vor einigen Jahren begleitete ich einen jungen Mann, der ein wirklich schweres Schicksal hatte. Und als ob Verfolgung und Flucht, Trennung von den Eltern und Tod des Vaters, während er in Deutschland versuchte, sich ein neues Leben aufzubauen, nicht genug gewesen wären, erhielt er Ende Oktober des herausfordernden Jahres die Diagnose einer sehr schweren Erkrankung. Ich begleitete ihn zu allen Untersuchungen und Mitte Dezember wurde er dann in die Universitätsklinik in Ulm eingeliefert. Es war, noch vor Weihnachten, eine sehr große Operation geplant und so warteten wir auf diesen Termin. Am 23. Dezember war es soweit und nach vielen Stunden des Bangens, in denen die Ärzte ihr Bestes gaben, kam die erlösende Nachricht, dass er die Operation den Umständen entsprechend gut überstanden hatte. Ich durfte ihn dann auch auf der Intensivstation besuchen.
Es war, wie Sie sich sicher vorstellen können, sehr bedrückend, ihn da liegen zu sehen, mit all den Schläuchen und Anschlüssen, den fremden Gerüchen und dem ständigen Piepen der überwachenden Geräte. Und obwohl ich sehr dankbar war, dass die Operation gelungen und die Ärzte zuversichtlich waren, fühlte ich mich müde, kraftlos und sicher meilenweit entfernt davon, auch nur einen Gedanken an Weihnachten zu verschwenden. Auf der Intensivstation war natürlich keinerlei festliche Dekoration erlaubt und alles war steril und unterkühlt. Als ich irgendwann in mein Hotel kam, wartete die erste Weihnachtsüberraschung auf mich und man überreichte mir ein weihnachtlich verpacktes Geschenk. In meinem Zimmer überraschten mich in dem Paket dann ein zauberhaftes Adventsgesteck mit einer roten Kerze, eine Flasche guten Rotweins und dazu ein Glas. Meine mitfühlende Freundin aus Stuttgart hatte mir sehr liebe, tröstende Worte geschickt und an mich gedacht. Ich konnte mich nicht mehr zurückhalten und weinte eine ganze Weile mit den Tränen all die angestaute Anspannung, Angst und Trauer aus mir heraus.
Den nächsten Tag verbrachte ich wieder auf der Intensivstation und wachte über meinen Schützling. Über meinen Heiligabend und dessen Gestaltung hatte ich mir natürlich überhaupt keine Gedanken gemacht. Da ich nun schon ein paar Tage in Ulm war, hatte ich über eine App nach Menschen gesucht, die mir Tipps geben konnten für gute, günstige Restaurants. Im Laufe des Tages piepte die App und ein Kontakt meldete sich mit der Frage, was ich denn am Abend, Heiligabend, tun wolle. Ich schrieb, dass es mir nicht gut ginge, ich mir trotz aller Zuversicht der Ärzte, große Sorgen um meinen Schützling machte und so gar nicht an Weihnachten gedacht hätte. Er schlug vor, indisch essen zu gehen, was ich zunächst für eine gute Idee hielt. Ich durfte eh nur bis 19.30 Uhr auf der Intensivstation bleiben und essen musste ich ja irgendetwas. So sagte ich also zu.
Bevor ich in die Stadt fahren wollte, plante ich, noch kurz im Hotel vorbeizufahren, zu duschen und mich umzuziehen, da ich den scharfen Geruch nach Desinfektionsmitteln, der auch an mir haftete, nicht mehr riechen konnte. Als ich in meinem Zimmer war, überkamen mich wieder große Trauer, Ängste und Hoffnungslosigkeit. Ich wollte natürlich niemandem den Abend verderben mit meiner Stimmung und rief an, um abzusagen. Ich sagte, dass ich heute eine sehr schlechte Essens-Begleitung und vermutlich eine noch schwierigere Gesprächspartnerin sein würde, da ich so traurig sei und mich nur erschöpft fühlte. Die Antwort, die dann an diesem denkwürdigen Abend über die Leitung kam, werde ich wohl nie vergessen. Dieser fremde Mensch sagte mit dem Brustton der Überzeugung: Wann, wenn nicht heute, am Heiligen Abend, sollten Menschen füreinander da sein und es wäre nicht wichtig, wie unterhaltsam oder fröhlich ich sei, sondern er würde einfach gerne versuchen, mich für ein paar Stunden abzulenken, um die schwierige Situation ausblenden zu können. Wieder musste ich weinen, so berührten mich seine Worte. Wir haben dann tatsächlich ein paar schöne Stunden in einem indischen Restaurant in Ulm verbracht. Da die Hindus kein Weihnachten feiern, war das Lokal dementsprechend auch nicht geschmückt, aber ich glaube, ich hatte niemals zuvor eine derart starke Ahnung vom Zauber der Weihnacht, dem Fest der Liebe, in meinem Herzen. Am ersten Weihnachtstag überredete er mich noch, für ein paar Stunden das Krankenhaus zu verlassen und lud mich ein zu einem Spaziergang durch das winterliche Umland. Auch das hat mir sehr gutgetan. Für eine Weile dem sterilen, grauen, beängstigenden Umfeld der Intensivstation zu entgehen, die frische, kalte Luft zu atmen und ein anregendes Gespräch zu führen, waren ganz besonders wertvolle Geschenke in dieser schweren Zeit. Wir sind übrigens bis heute freundschaftlich verbunden.
Ich möchte heute die Gelegenheit nutzen, um Danke zu sagen. Zunächst natürlich den Menschen, die mich damals durch diese schwere Zeit begleitet haben, aber vor allem auch all den wunderbaren Menschen, die (nicht nur in diesen Tagen) überall unterwegs sind, um anderen Menschen zu helfen, ihnen zur Seite zu stehen, die zuhören, sich kümmern, Tränen trocknen, in den Arm nehmen. Durch diese Menschen wird Weihnachten zum Fest der Liebe. Auch hier auf der Insel gibt es viele Leute, die aus welchen Gründen auch immer, den Heiligabend alleine verbringen müssen oder denen es in diesen Tagen nicht so gut geht. Ein freundliches Wort, eine Einladung zu einem gemeinsamen Essen oder zu einem Spaziergang können vieles verändern und die Herzen der Menschen berühren.
Schließen möchte ich heute mit den Zeilen von John Calvin Coolidge, Jr. (30. Präsident der USA), der sagte: „Weihnachten ist kein Zeitpunkt und keine Jahreszeit, sondern eine Gefühlslage. Frieden und Wohlwollen in seinem Herzen zu halten, freigiebig mit Barmherzigkeit zu sein, das heißt, den wahren Geist von Weihnachten in sich zu tragen.”
Ich wünsche Ihnen und Ihren Lieben, eine wunderbare Weihnachtszeit voller schöner Begegnungen und berührender Momente.
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