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Es ist stickig und eng in dem Kofferraum der dunklen Diplomaten-Limousine. Tomas de Niero, damals noch der 16-jährige Tomas Friedrich und seine Mutter wagen 1975 mit Hilfe eines afrikanischen Diplomaten über den berühmten Checkpoint Charlie die Flucht nach Westberlin. Heute, viele Jahre später, sieht der 63-Jährige diese Stunden voller Anspannung und Angst als Beginn eines Lebensweges voller Schmerz, Furcht und Überlebenskampfes auf der einen, aber auch Freude, Einzigartigkeit und großen Glücks auf der anderen Seite. Die schlimmen und schönen Momente verarbeitet er in seinem neuen Buch „Nur eine kleine Operation”.

„Ich bin damals aus dem Kofferraum geklettert und kurz danach wurde bei mir Morbus Crohn, eine entzündliche Darmerkrankung diagnostiziert”, erinnert sich der Musiker, Produzent und Autor. Seine komplette Krankheitsgeschichte reicht für mehrere Menschenleben. Neben der chronischen Darmerkrankung erlitt er in der Vergangenheit einen Schlaganfall, hatte Hautkrebs und mittlerweile die zweite Spenderniere im Körper. „Im Krankenhaus Son Espasses begrüßen mich die Ärzte auf dem Gang mit Handschlag. Da kenn ich echt jeden mittlerweile”, witzelt de Niero.

Während er den Hautkrebs und den Schlaganfall so nebenbei erwähnt, als wären diese nicht für sich genommen schon schwere gesundheitliche Schicksalsschläge, liegt der Fokus seiner aktuellen Arbeit auf dem Thema Organspende. „Meine Nieren haben aufgehört zu arbeiten und ich habe 2004 meine erste Spenderniere bekommen. Danach habe ich mir den Künstlernamen ,de Niero’ in den Pass eintragen lassen.” Damit wollte er Humor in seine Situation bringen, ein bisschen provozieren, und Aufmerksamkeit für das Thema Organspende schaffen. „Es geht mir nicht ums Missionieren, denn die Entscheidung, Organe zu spenden, ist die eines jeden Einzelnen und sollte das auch bleiben. Mein Bruder lag mit 33 hirntot im Krankenhaus und ich musste die schwere Entscheidung treffen, die Geräte abzuschalten. Die Ärzte fragten mich damals, ob eine Organspende infrage kommen würde. Ich hab sie wütend aus dem Zimmer gejagt. Heute, durch mein Nierenleiden kenne ich beide Seiten.”

Was seinen eigenen Kampf gegen Krankheit betrifft, hatte der in Portocolom ansässige de Niero Glück, dass er seinen Lebensmittelpunkt bereits vor 20 Jahren nach Mallorca verlagert hat. Nicht nur, weil ihn die Insel entschleunigt und zu einer langsameren, gesünderen Lebensweise verführt hat. „Hier ist es viel einfacher als in Deutschland, ein Spenderorgan zu bekommen. Dort muss man ausdrücklich in Form eines Organspendeausweises in die Organspende einwilligen. Hier in Spanien ist es genau andersherum. Man muss der Organspende ausdrücklich widersprechen.” Auf sein erstes Spenderorgan hat der Berliner deshalb nur zwei Jahre warten müssen. In Deutschland beträgt die Wartezeit zwischen sechs und acht Jahren.

Eine transplantierte Niere arbeitet im Schnitt zwölf Jahre in einem fremden Körper. Das Geschenk, das ihm damals von einem 54-jährigen Spanier gemacht wurde, versagte 2016 langsam seinen Dienst. „Das war eine sehr schwere Zeit für mich. Ich war schon wieder gefangen zwischen Hoffen und Bangen. Der Hautkrebs brach wieder durch und ich erinnere mich an eine Nacht im Krankenhaus, in der ich einfach aufgeben und mir das Leben nehmen wollte.”

Anstatt diesen Plan in die Tat umzusetzen, hatte er in dieser Nacht die Eingebung zu einem neuen Song. „Das Stück heißt ,Auf der anderen Seite’. Dieser Titel hat mir geholfen, mich an all die besonderen Dinge in meinem Leben zu erinnern und eben nicht aufzugeben.” Der Musiker ist beispielsweise seit Jahren mit Sängerin Bonnie Tyler befreundet. Er wurde von seinem Idol Stevie Wonder eingeladen, eine Woche mit ihm im Studio zu verbringen. Er hat die Liebe seines Lebens gefunden und außerdem großartige Kinder in die Welt gesetzt. „Es gibt noch so viel mehr aussergewöhnliche Momente in meinem Leben. Für mich steht deshalb fest, es gibt einen Kausalzusammenhang zwischen großem Glück und großem Unglück. Mein Leben ist ein bisschen wie eine Waage, die schon immer in eines der beiden Extreme ausschlägt.”

Außerdem glaubt Tomas de Niero fest daran, dass die Kraft, die er im Laufe seines Lebens im Kampf gegen seine Krankheiten entwickelt hat, ihm gleichzeitig die Stärke verliehen hat, seine Träume zu verwirklichen. „Ich habe mehr als zehn Operationen hinter mir und dadurch mehr als 20 Narben am ganzen Körper. Vier Jahre lang musste ich mehr als 20.000 Tabletten schlucken. Ich hatte echt harte Zeiten. Und natürlich habe ich mich mehr als einmal gefragt: Warum gerade ich? Diese Frage stellt sich jeder, der einen Schicksalsschlag erleidet. Ich glaube mittlerweile eben zu verstehen, warum mein Leben ist wie es ist. Ich habe mich mit meinem Schicksal arrangiert und auch keine Angst mehr vor dem Sterben. Nur dahinvegetieren möchte ich nicht. Aber diese Entscheidung liegt ja zum Glück in meiner Hand.”

Am 8. August 2020 wurde de Niero zum zweiten Mal eine Spenderniere transplantiert. Wieder von einem 54-jährigen Spanier. „Meine Mutter hat ihr Leben lang Karten gelegt, Numerologie ist mir deshalb nicht ganz unbekannt. Ich bin nicht religiös, aber Spiritualität und sogar Esoterik fand ich schon immer spannend.”

Im Jahr 2000, also während Morbus Crohn aber vor Hautkrebs, Schlaganfall und Niereninsuffizienz reiste de Niero auf Empfehlung von Freunden und aus Neugier nach Indien zu einem sogenannten Palmenblattleser. Eine traditionelle indische Form der Wahrsagerei und der Vergangenheitsdeutung. „Wegen meiner Krankheitsgeschichte fragte ich den Mann, ob mir in meinem Leben noch viele Operationen bevorstehen würden. Er antwortete auf Englisch: ‚Only one little Operation’ also nur eine kleine Operation”, lacht de Niero und ergänzt, „Da lag der gute Mann wohl etwas daneben, aber ein guter Buchtitel ist es allemal.”

„Er hat mir außerdem prophezeit, dass ich das stolze Alter von 83 Jahren erreichen werde. Nun, ich bin geneigt zu hoffen, dass er damit zumindest richtig liegt. Durch meine bewegte Krankengeschichte bin ich sowieso übermäßig trainiert, mich an das Positive zu halten. Und so schlecht kann das nicht sein, denn ich bin schließlich noch hier.”