"Cant de la Sibil·la" heißt "Gesang der Sibylle". Er wird auf Mallorca zu Heiligabend in der Christmette gesungen. Im Mittelalter war er in ganz Südeuropa verbreitet. Über die Jahrhunderte hielt er sich jedoch nur auf Mallorca und in Alghero auf Sardinien, das einst zum Königreich Mallorca gehörte. Im Jahr 2010 wurde er als mallorquinischer Brauch von der Unesco zum immateriellen Weltkulturerbe erklärt. In den vergangenen Jahrzehnten wurde diese Tradition auch in Katalonien und Valencia wieder eingeführt.
Warum wurde der "Cant de la Sibil·la" nur auf Mallorca und in der Kathedrale von Alghero fast ununterbrochen aufgeführt?
Im 16. Jahrhundert wurde auf dem Konzil von Trient unter anderem der Ablauf des Gottesdienstes reformiert. Dazu gehörte die Verbannung von allem, was nicht zur eigentlichen traditionellen Liturgie gehörte, zum Beispiel szenische Aufführungen. Die Bischöfe setzten dies sehr unterschiedlich um. Auf Mallorca gab es nur eine dreijährige Unterbrechung, und 1692 erlaubte die Kirche definitiv den "Cant de la Sibil·la" auf Mallorca, jedoch nur an Heiligabend.
Warum passte die Sibil·la nicht mehr ins Konzept?
Laut dem Theologen und Philologen Gabriel Seguí verbot das Konzil nicht den Gesang der Sibylle, sondern untersagte alle Missbräuche während der Aufführung, zum Beispiel dass die Messebesucher während des Gesangs lachten, applaudierten und sich unterhielten. Das Konzil beauftragte die Bischöfe, diese Missbräuche nach ihrem Dafürhalten zu unterbinden. Der eine verbot den Gesang, der andere erlaubte ihn weiter. So erklärt sich, warum er sich auf Mallorca gehalten hat.
Wer ist die Sibylle?
Die Sibyllen waren in der griechisch-römischen Kultur Prophetinnen. Ihre Weissagungen waren im Altertum sehr populär. Im alten Rom gab es sogar die Sibyllinischen Bücher, eine Sammlung von Orakelsprüchen. Obwohl die Existenz einer historischen Sibylle nicht nachweisbar ist, beanspruchten in der Antike mehrere Orte für sich, ihr wahres Heiligtum zu sein.
Wie kam der Gesang der heidnischen Sibylle in die Kirchen?
Den bekehrten Christen im alten Rom waren die sibyllinischen Weissagungen vertrauter als die alttestamentarischen Prophezeiungen. Zwangsläufig setzten sich die Urchristen mit ihrer Bedeutung auseinander. Einer von ihnen war der Kirchenlehrer Augustinus (354-430). In seinem Werk "De civitate Dei" (Vom Gottesstaat) zitierte er auf Lateinisch eine Weissagung, dies er der Sibylle von Erythrai in der heutigen Provinz Izmir zuschrieb.
Wieso brachte Augustinus eine Prophetin der Antike mit dem Christentum in Zusammenhang?
Augustinus glaubte, dass die Weissagungen dieser Sibylle auf die Ankunft des Heilands anspielten. Er erwähnte die – historisch nicht belegbaren – griechischen Original-Verse. Ihre Anfangsbuchstaben ergaben folgende Worte: IHSOYS XREISTOS ZEOY YIOS SOTHR, also Jesus Christus, Sohn Gottes, Heiland. Die Anfangsbuchstaben dieser fünf griechischen Worte ergeben wiederum das Wort IXZYS – Fisch, ein Symbol für Jesus Christus.
Wovon handelt der Cant de la Sibil·la?
Weder von der Stillen Nacht noch von der Frohen Weihnacht, sondern vom Weltuntergang. In der Übersetzung des Augustinus ist von einem König die Rede, der vom Himmel herabkommen wird, um die Welt zu richten. Dank ihrer Übereinstimmungen mit dem Jüngsten Gericht konnten die apokalyptischen Prophezeiungen als Gesang der Sibylle christianisiert und Teil der Liturgie werden. Fortan kündete das Orakel von der Schreckensherrschaft des Anti-Christen, furchtbar schreienden Fischen, verbrennenden Gewässern, vom Richter mit Feuer und Schwert. Am Ende stehen die Anrufung Marias und das Gebet zu Jesus mit der Bitte um Rettung vor der Hölle.
Was hat der Gesang mit Weihnachten zu tun?
Streng genommen nichts. Die älteste handschriftliche Fassung dieses Gesangs stammt aus dem 10. Jahrhundert aus dem Kloster Saint Marcial in Limoge. Damals, zur Jahrtausendwende, erwarteten tatsächlich weite Teile der Christenheit den Untergang der Welt. Doch das Universum blieb bestehen, und mit ihm der Cantus Sibyllae, wie er auf Lateinisch hieß. Die erste katalanische Version stammt aus dem 13. Jahrhundert und kam mit Jaume I. nach Mallorca. Im Mittelalter war der Gesang Teil eines liturgischen Schauspiels, das nicht an Weihnachten gebunden war. Ab dem 15. Jahrhundert wurde er in der Kathedrale in Palma an Heiligabend aufgeführt.
Von wem wird der "Cant de la Sibil·la" aufgeführt?
Ursprünglich sang ihn ein Priester oder ein Knabe, der „wie ein Fräulein“ gekleidet war. Vor sich hielt er ein Schwert in die Höhe, das einzige Relikt des ursprünglichen Schauspiels. Seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil, das in den 1960er Jahren abgehalten wurde, darf die Sibylle auch tatsächlich weiblichen Geschlechts sein.
Wo kann man den Cant de la Sibil·la an Heiligabend erleben?
Der Gesang der Sibylle erklingt in vielen Kirchen zur Christmette, der sogenannten "Misa del Gallo". Am beeindruckendsten ist er in der Kathedrale (23 Uhr) und im Kloster Lluc (22 Uhr).
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