Keine dreißig Sekunden kann Klaus Haetzel auf der Plaça Major in Pollença im Norden von Mallorca stehen bleiben, ohne dass er von mehreren Dorfbewohnern gegrüßt oder angesprochen wird. Hier kennt man sich. "Das hat man nur auf dem Dorf und das ist toll", findet der Schriftsteller. "Wenn ich Stille will, dann gehe ich wenige Meter bis ins Gebirge oder mache die Tür zu, und wenn ich Gesellschaft will, dann komme ich hier auf die Straße."
In Pollença kennt Haetzel den Müllmann, die Lokalpolizistin und den Buchhändler. Über fast jeden, der über den Dorfplatz läuft, kann Haetzel eine Geschichte erzählen. Und obwohl er seine Spanischkenntnisse selbst als "miserabel" bezeichnet, hat der 74-Jährige überwiegend spanische Freunde. "Die ersten ein, zwei Jahre fremdelt man natürlich, aber dann wird man mit den Einheimischen warm", weiß er.
15 Jahre ist es mittlerweile her, dass Haetzel in das alte Haus mit Panoramablick über das Dorf und die angrenzenden Berge gezogen ist. Hier lebt er mit Hündin Yalka und vier Katzen. Sein Interesse am Sporttreiben, an der Bauernkooperative im Ort und am leckeren Essen vom Wochenmarkt, sein enger Kontakt zur Buchhandlung im Dorf und zum Restaurant gleich gegenüber seien ideal gewesen, um Kontakte zu knüpfen. Und natürlich seine Tierliebe.
Geboren wurde Haetzel in Berlin, doch mittlerweile reizt die Großstadt ihn nicht einmal mehr ab und zu. "Jeder Ausflug in die Stadt, selbst nach Palma, ist für mich zunehmend eine Überwindung. Ich bin durch und durch Dörfler geworden", erzählt er und muss grinsen. Die kurzen Entfernungen, die leichte Orientierung und der ausgeprägte Gemeinschaftssinn in dem kleinen Örtchen reizen den Schriftsteller, inspirieren ihn.
Auch Frank Krüger ist Urberliner. Ab und zu kommt bei ihm Sehnsucht nach Großstadt auf, dann fliegt der Künstler in seine Heimat oder nach New York. Doch wirklich zu Hause fühlt sich der 53-Jährige nur in Capdepera. Dort wohnt er seit sechs Jahren mit seiner Frau und seiner neunjährigen Tochter, direkt im Dorfzentrum. Den Gewölbekeller eingerechnet zählt das renovierte alte Häuschen vier Etagen, hat alte Steinböden und eine geräumige Terrasse mit Zitronenbaum. Manchmal kommen die Nachbarn durch ihren Hühnergarten über die kleine Mauer herüber, bringen Früchte, Hierbas oder halten einen Schwatz. Krügers Tochter braucht zu Fuß eine Minute bis zur Schule, das Rathaus ist direkt gegenüber und das Gesundheitszentrum in der Parallelstraße. "Wir brauchen nicht einmal eine Uhr, wir haben ja den Kirchturm", sagt Krüger und schmunzelt. Der Künstler ist viel unterwegs, hat eine Galerie im Nachbardorf Cala Rajada und eine in Palma. Trotz kurzer Momente der Sehnsucht nach der Großstadt: Wenn Krüger vom Dorfleben in Capdepera erzählt, gerät er leicht ins Schwärmen. "In Städten wie Berlin hat man zwar viele kulturelle Angebote, aber hier auf dem Dorf nutzt man die Vorzüge viel mehr, vor allem mit Kind." Schwimmen im Meer, Fahrradfahren, Wandern, Surfen - langweilig wird es den Krügers nicht. "Eine Finca auf dem Land wäre aber auch nichts für uns, das ist zu einsam."
Dass es auf dem Dorf viel Klatsch und Tratsch gibt, stört Krüger nicht. "Da halte ich mich raus. Mir war immer schon egal, was die Leute über mich denken." Dennoch hat er guten Kontakt zu den Einheimischen. "Die Mallorquiner brauchen etwas, bis sie ihre Türen öffnen, aber wenn sie einmal auf sind, dann bleiben sie auch auf."
Ähnliche Erfahrungen haben auch Nils und Marina Burwitz gemacht. Mitten in Valldemossa schmiegt sich ihr Haus im typisch mallorquinischen Stil an ähnliche Häuschen an. Nur Autos von Einwohnern dürfen durch die schmalen Gassen des Bergdorfs fahren. Die Touristen, die das ganze Jahr über kommen, sind ruhig, sie suchen das authentische Mallorca und staunen über die atemberaubende Bergkulisse, die schon viele Künstler inspiriert hat.
Familie Burwitz ging das nicht anders, damals vor 40 Jahren, als sie zum ersten Mal hierher kam. Ein Freund hatte das Dorf als Wohnort empfohlen. "Als wir hier ankamen, spürten wir sofort: Das ist es, hier gehören wir hin", berichtet Marina Burwitz. Zuvor hatten die damals jungen Eltern dreier Kinder dieses Gefühl nicht gekannt: Er war mit 17 Jahren von Deutschland nach Südafrika gezogen und schon dort als Künstler aktiv, sie ist als Russischstämmige in Südafrika aufgewachsen. Als die politische Situation in dem Land sich zuspitzte, beschlossen die Burwitz' mit ihren kleinen Kindern freiwillig ins Exil zu gehen.
Dass es Mallorca wurde, war mehr oder weniger Zufall, doch dass es sie in ein Dorf zog und nicht in eine Stadt wie Palma oder auf eine einsame Finca, das war sofort klar. "Wir wussten aus eigener Erfahrung, wie es ist, nicht dazuzugehören. Deshalb war es uns wichtig, dass unsere Kinder sich integrieren. Dafür ist Dorfleben die beste Möglichkeit", findet Nils Burwitz. "In einer großen Gemeinschaft muss man sich selbst schützen und viele verkriechen sich, auf dem Dorf ist das nicht so", pflichtet ihm seine Frau bei. In Dörfern wie Valldemossa könnten die Kinder auf der Straße spielen und man habe die Gewissheit, dass 100 andere Mütter mit auf sie aufpassen. Den Ruf, die Mallorquiner seien verschlossen, können die beiden nicht nachvollziehen. "Es kommt absolut darauf an, wie man auf sie zugeht. Wenn man ihnen mit Respekt und Interesse begegnet, dann geben sie das auch zurück", ist sich Marina Burwitz sicher.
"Die richtige Attitüde steht an erster Stelle, aber ein Dorf, in dem sich jeder kennt, macht es natürlich zusätzlich einfacher", findet Nils Burwitz. Weitere Türöffner seien Kinder und die Sprache. Schnell lernten die Burwitz' Spanisch, bald sprachen die Kinder und der Familienvater auch Mallorquin. Heute wohnen die 75-Jährigen allein in ihrem Haus, für die Kinder gab es im Dorf keine Arbeit. "Wir bleiben hier. Von Valldemossa bis in den Himmel", scherzt Nils Burwitz. Schon lange hinterlässt der Künstler im Dorf Spuren, eine Skulptur am Dorfeingang und verzierte Kirchenfenster sind nur wenige Beispiele. "Und als 1981 eines meiner Werke mit dem 'Premio Ciutat Palma' ausgezeichnet wurde, hat sich das ganze Dorf mit mir gefreut", erinnert er sich.
Solch enge Verbindungen hat Ingrid Flohr nicht geknüpft. Sie lebt seit zehn Jahren im Zentrum von Santanyí. Mittlerweile sind nachbarschaftliche Hilfen und kleine Smalltalks mit Mallorquinern in Ingrid Flohrs Leben Alltag, ab und zu lässt sie sich auch auf einem der Dorffeste blicken, war sogar mal im Sportverein angemeldet. "Auf dem Dorf muss man zusammenhalten", findet sie. Wirklich integriert fühlt sich Ingrid Flohr jedoch nicht. "Das war aber auch nie mein Ziel", betont sie. Die meisten ihrer Bekannten seien Deutsche aus der Region. "Aber wenn mein zehnjähriger Enkel aus dem Nachbardorf zu Besuch ist und wie selbstverständlich Mallorquin redet, dann wird der Ton der Passanten gleich anders und die Gespräche mit den Leuten auf der Straße oder dem Spielplatz tiefgründiger." Einfach sei es aber eben nicht immer. "Man wird auf dem Dorf beobachtet, wenn man dauerhaft dort wohnen bleibt. Es braucht lange, bis man richtig wahrgenommen wird und teilhat. Man muss für die Bewohner einzuordnen sein, dann wird man gut und respektvoll behandelt." Genau so wie in Deutschland, weiß Flohr. Jahrelang lebte sie im bayrischen Bad Füssing, rund 50 Kilometer von München entfernt - ebenso weit, wie Santanyí von Palma entfernt ist. "Ein Dorf muss belebt sein, damit ich mich in ihm wohlfühle. Es darf nicht zu einsam sein. Und eine Großstadt in der Nähe zu haben, ist gut. Aber ich mag die Weite, den Blick auf landschaftliche Idylle. In der Stadt ist es immer laut und eng und die Luft ist anders", findet Flohr.
Einen Trend ins Dorf kann Immobilienmakler Matthias Kühn nicht bestätigen. "Das ist die Minderheit. Die meisten zieht es nach Palma, obwohl die Preise auf den Dörfern viel geringer sind." Marvin Bonitz von der Immobilienfirma Minkner&Partner teilt diese Erfahrung: "Die Zahl der Dorfhäuser, die wir in 22 Jahren Tätigkeit verkauft haben, liegt bei deutlich unter einem Prozent." Allerdings könne es gut sein, dass auf Dörfer spezialisierte Maklerbüros andere Zahlen vorliegen haben. Engel&Völkers ist so ein Beispiel. "Die Bevölkerung in den Dörfern steigt", berichtet die Managin Partnerin der Firma, Gabriela Muñoz. Vor allem Deutsche, Briten und Skandinavier ziehe es in Mallorcas Dörfer. "Besonders Esporles und Son Vida sind gefragt, weil sie wenige Autominuten von Palma entfernt liegen."
Die Nähe zu Palma ist Heiner Süselbeck egal. "Wir wollten in die Lebenswelt der Mallorquiner eintauchen", berichtet er. "Deshalb sind wir aufs Dorf gezogen." Und, weil die Mietpreise günstiger sind - zumindest in den Dörfern, die nicht direkt an der Küste liegen. Mit seiner Frau Stefanie wohnt Süselbeck in einer Eigentumswohnung in Andratx, spricht fließend Spanisch und auch immer mehr Mallorquin. Durch die ehrenamtliche Mitarbeit bei der Caritas in Andratx kann er mittlerweile auch die Vokabeln aller Lebensmittel. "Das ist eine harte Schule", sagt er und lacht. "Aber das ist gut so." Süselbeck ist pensionierter evangelischer Pfarrer, trotzdem engagiert sich der 69-Jährige in der katholischen Wohlfahrtsorganisation. Auch im Kommunalwahlkampf der PSIB in Andratx war er aktiv. "Dabei ist die Herkunft egal", findet er. Vielmehr gehe es um Werte und das sähen die Ur-Andratxer ähnlich.
Obwohl die Süselbecks erst seit 2010 dort wohnen, ist das Ehepaar voll eingegliedert. Nicht zuletzt durch die Mitgliedschaft in einer spanischen Wandergruppe und der Eigentümergemeinschaft in ihrem Wohnhaus. Das Ziel, sich durch das Dorfleben in die Gesellschaft einzufinden, haben die Süselbecks erreicht. Trotzdem wissen sie auch die Vorzüge einer Großstadt zu schätzen. "Früher, als ich noch in Wuppertal gelebt habe, bin ich öfter ins Kino gegangen", erinnert sich der Rentner. Dafür sehe er sich in Andratx mehr Theaterstücke der örtlichen Laienspielgruppen an. "Auf dem Dorf kann man das Große im Kleinen entdecken. Und das ist unbezahlbar."
(aus MM 47/2015)
1 Kommentar
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"Son Vida" ein mallorquinisches Dorf? Da muss die Nacht vor der letzten Redaktionssitzung aber ziemlich lang gewesen sein *gg