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Wenn Lali Cardona vor ihrem Zeitungsladen steht und die Major-Straße Richtung Dorfkirche hinaufblickt, sollte sie im Prinzip gelassen sein. Denn alles ist proper und sauber hier, jeder grüßt jeden, die Vögel zwitschern auf den Dächern. Und beim MM-Ortstermin lacht die frühherbstliche Sonne vom Himmel. Es sieht alles so aus, als wäre hier niemals etwas Schlimmes passiert.

Doch Lali Cardona lebt in Sant Llorenç des Cardassar, und schon bevor sie auf die Flut-Katastrophe zu sprechen kommt, die den Ort am 9. Oktober 2018 wie eine biblische Plage heimsuchte, ist in ihren Augen ein irritierendes Flackern zu erkennen. „Wir sind dazu verurteilt, mit der Angst zu leben”, sagt sie und blickt etwas verstört auf die Erde. „Vor einem Jahr rauschte hier das Wasser des Torrent de Begura d’en Saumá vorbei”, erinnert sich Lali. „Unser Laden wurde zerstört.”

Nach ungewöhnlich heftigen Unwettern mit sintflutartigen Regenfällen war damals eine bräunlich-rötliche Flutwalze von den nahen Bergen heruntergerollt. Das Beton-Bett des Sturzbachs konnte die Wassermassen nicht fassen, sodass Teile von Sant Llorenç und des Dorfs Son Carrió überflutet wurden. 13 Menschen kamen damals ums Leben, darunter drei Deutsche. Die Brühe ergoss sich samt Autos und anderen Objekten bei S’Illot mit entfesselter Gewalt ins Mittelmeer.

Beim MM-Ortstermin ist alles ruhig in Sant Llorenç: Nur ein paar Schritte von Lali Cardonas Schreibwaren-, Zigaretten- und Zeitungsladen entfernt liegt wie ein schlafendes Ungeheuer schlangenartig das hässliche Betonbett des Todes-„Torrents”. Nebenan züchten Anwohner wieder ungerührt Pflanzen. Dennoch leben sie in Angst, und das nicht ohne Grund. „Weil die Brücken so niedrig waren, lenkten sie das Wasser ins Dorf”, sagt Lali Cardona. Ein Hauch von Panik steigt in ihre Augen. Denn anders als in den Straßen, die mittlerweile puppenstubenhaft sauber sind, wurde an den Überführungen des „Torrents” noch nichts so ausgebessert, dass Wasser durchfließen kann.

Kein Wunder, dass die traumatisierten Menschen von Sant Llorenç von Furcht gebeutelt wurden, als erst kürzlich, am 10. September, ein regenreiches Tiefdruckgebiet, eine sogenannte „Gota Fría”, über Mallorca hereinbrach. Die Gemeinde forderte die Einwohner mit Handzetteln auf, bloß ihre Autos aus gefährdeten Ecken wegzufahren. Alte Menschen wurden gebeten, in höhere Stockwerke zu ziehen.

„Wird es wieder passieren?”, fragte sich an jenem Tag auch Lourdes Caldentey, die in der Major-Straße eine Filiale der spanischen Lotterie betreibt. Es geschah am Ende nichts, sie und die anderen Sant-Llorenç-Bewohner konnten aufatmen. Doch die Angst bleibt, weil die Brücken ja noch immer zu niedrig sind. „Wir müssen optimistisch sein”, sagt Lourdes Caldentey „Nichts ist vorausberechenbar.” Ihr Laden war am 9. Oktober 2018 in Minutenschnelle ebenfalls unter Wasser gesetzt worden. Zwar sieht jetzt alles gestrichen wieder wie neu aus, „doch die Feuchtigkeit in den Wänden wird bleiben”, sagt die Lotteriefilialen-Frau. Man habe zwar schnell Hilfen von der Landesregierung bekommen, doch das Hauptproblem sei die Furcht.

„Um uns ein bisschen zu beruhigen, führte uns der Geograf Miquel Grimalt vor einiger Zeit mal herum”, erinnert sich Lali Cardona. „Er äußerte: Erst wenn die Wolken grün werden, muss man schnell Reißaus nehmen, weil eine ‚Torrentada’, eine Flut, kommt.” Sehr gelassen sieht die Zeitungsladenbetreiberin nicht aus, als sie das sagt. Unweit von ihr werkeln noch immer einige Bauarbeiter an einer Hausfassade herum. Ein Jahr ist halt keine lange Zeit.

Dass die Brücken weiter ein Problem sind, ist auch Bürgermeister Mateu Puigros klar. „Das muss noch erledigt werden”, so der Gemeindevorsteher auf dem jetzt sauberen Rathausplatz zu MM. Er wünscht sich auch eine Vertiefung der Rinne des Sturzbachs und eine Erhöhung eines bei der Flut überschwemmten Kreisverkehrs nordöstlich des Dorfs. Doch im Grunde ist Mateu Puigros zufrieden. „Die zerstörte Infrastruktur wurde inzwischen komplett wiederhergestellt”, freut er sich. „Auch die in Mitleidenschaft gezogenen Trinkwasserleitungen wurden wieder repariert.”

Schlendert man durch Sant Llorenç, sieht man klar die Fortschritte: Auf damals besonders betroffenen Straßen wurden die Teerdecken komplett erneuert, beschädigte Häuser wurden auf Vordermann gebracht. Wo kaum mehr etwas auszurichten war, wurden Fenster zubetoniert. Bürgermeister Puigros zufolge kaufte die Gemeinde außerdem im Umkreis des Dorfs leere Flächen auf, die 7000 Quadratmeter groß sind und auf die bei einer etwaigen Flut das Hochwasser in großen Mengen umgeleitet werden kann.

Doch Sant Llorenç lebt weiter im Bann des Sturzbachs. Jedem hier ist angesichts des Klimawandels klar: Jederzeit kann das schlafende Ungeheuer wieder erwachen.