Was ist der Cant de la Sibil·la?
"Cant de la Sibil·la" heißt "Gesang der Sibylle". Er wird auf Mallorca zu Heiligabend in der Christmette gesungen. Im Mittelalter war er in ganz Südeuropa verbreitet. Heute gibt es ihn nur noch auf Mallorca und in Alghero auf Sardinien, das einst zum Königreich Mallorca gehörte. Im Jahr 2010 wurde er als mallorquinischer Brauch von der Unesco zum immateriellen Weltkulturerbe erklärt.
Wer ist die Sibylle?
Die Sibylle war in der griechisch-römischen Kultur eine Prophetin. Ihre Weissagungen waren im Altertum sehr populär. Im alten Rom gab es sogar die Sibyllinischen Bücher, eine Sammlung von Orakelsprüchen. Obwohl die Existenz einer historischen Sibylle nicht nachweisbar ist, beanspruchten in der Antike mehrere Orte für sich, das wahre Heiligtum der Prophetin zu sein.
Wie kam der Gesang der heidnischen Sibylle in die Kirchen?
Den bekehrten Christen im alten Rom waren die sibyllinischen Weissagungen vertrauter als die alttestamentarischen Prophezeiungen. Zwangsläufig setzten sich die Urchristen mit ihrer Bedeutung auseinander. Einer von ihnen war der Kirchenlehrer Augustinus (354-430). In seinem Werk "De civitate Dei" (Vom Gottesstaat) zitierte er auf Lateinisch eine Weissagung, die er der Sibylle von Erythrai in der heutigen Provinz Izmir zuschrieb. Er erwähnte auch die - historisch nicht belegbaren - griechischen Original-Verse. Augustinus zufolge ergaben ihre Anfangsbuchstaben folgende Worte: IHSOYS XREISTOS ZEOY YIOS SOTHR, also Jesus Christus, Sohn Gottes, Heiland. Die Anfangsbuchstaben dieser fünf griechischen Worte ergeben wiederum das Wort IXZYS - Fisch, ein Symbol für Jesus Christus. Der Kirchenlehrer schloss daraus, dass die Weissagungen auf die Ankunft des Heilands anspielten.
Wovon handelt der "Cant de la Sibil·la"?
Weder von der Stillen Nacht noch von Frohen Weihnachten. Schon in der lateinischen Übersetzung des Augustinus aus dem Griechischen ist von einem unsterblichen König die Rede, der vom Himmel herabkommen wird, um die Welt zu richten. Dass dieser dabei nicht zimperlich vorgeht, ist durchaus bibel-kompatibel: Dank ihrer Übereinstimmungen mit dem Jüngsten Gericht konnten die apokalyptischen Prophezeiungen als Gesang der Sibylle christianisiert und Teil der Liturgie werden. Fortan kündete das Orakel von der Schreckensherrschaft des Anti-Christen, furchtbar schreienden Fischen, verbrennenden Gewässern, vom Richter mit Feuer und Schwert, der die Bösen ins ewige Höllenfeuer stürzt und den Guten das Königreich bringt. Am Ende stehen die Anrufung Marias und das Gebet zu Jesus mit der Bitte um Rettung vor der Hölle.
Was hat der Gesang mit Weihnachten zu tun?
Streng genommen, nichts. Die älteste handschriftliche Fassung dieses Gesangs stammt aus dem zehnten Jahrhundert aus dem Kloster Saint Marcial in Limoges. Damals, zur Jahrtausendwende, erwarteten tatsächlich weite Teile der Christenheit den Untergang der Welt. Doch das Universum blieb bestehen, und mit ihm der Cantus Sibyllae, wie er auf Lateinisch hieß. Die erste katalanische Version stammt aus dem 13. Jahrhundert und kam mit Jaume I. nach Mallorca. Im Mittelalter war der Gesang ein liturgisches Schauspiel, das nicht an Weihnachten gebunden war. Es wurde allein aufgeführt oder am Ende der "Processó des Profetes", bei der zuvor die Propheten der Bibel ihre Weissagungen machten. Es ist jedoch bekannt, dass der Cant de la Sibil·la bereits im 15. Jahrhundert in der Kathedrale in Palma an Heiligabend aufgeführt wurde.
Wie wird der "Cant de la Sibil·la" aufgeführt?
Ursprünglich sangen die gregorianische Melodie Priester oder ein Knabe, der "wie ein Fräulein" gekleidet war. Vor sich hielt er ein Schwert in die Höhe, das einzige Relikt des ursprünglichen Schauspiels. Am Ende des Gesangs schlägt er mit dem Schwert ein Kreuz. Mittlerweile auch sie: Mädchen dürfen seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil in den 1960er Jahren in die Rolle der Sibylle schlüpfen. In der Kathedrale von Palma übernimmt diesen Part eine Sopranistin. Zwischen den Strophen wiederholt ein Chor einzelne Verse oder spielt eine Orgel. Verloren gegangen ist der Brauch, am Ende des Gesangs mit einem Schwerthieb die Girlanden zu durchtrennen, an denen die Neules hängen. Heute handelt es sich dabei um Kirchendekoration aus Papier, früher dagegen um Gebäck, das die Messebesucher, wenn sie eines ergattern konnten, vor Ort verspeisten.
Warum wird der "Cant de la Sibil·la" nur noch auf Mallorca und in der Kathedrale von Alghero aufgeführt?
Im 16. Jahrhundert wurde auf dem Konzil von Trient unter anderem der Ablauf des Gottesdienstes reformiert. Dazu gehörte auch die Verbannung von Aufführungen und Theaterstücken aus den Messen. Die Bischöfe setzten dies sehr unterschiedlich um. Während in Barcelona der Gesang der Sibylle seit 1575 abgeschafft wurde, gab es auf Mallorca nur eine dreijährige Unterbrechung zwischen 1572 und 1574. Offenbar war der Brauch zu tief verwurzelt, und die Insulaner können bekanntermaßen sehr halsstarrig sein, wenn es um ihre Kultur geht. 1692 erlaubte die Kirche definitiv den "Cant de la Sibil·la" auf Mallorca, jedoch nur noch an Heiligabend.
Wo kann man den Cant de la Sibil·la an Heiligabend erleben?
Den Gesang der Sibylle wird in nahezu jeder Kirche zur Christmette, der sogenannten "Misa del Gallo" erklingen. Am beeindruckendsten ist er in der Kathedrale und im Kloster Lluc. In der Kathedrale wird der Bischof von Mallorca, Javier Salinas, um 23 Uhr die Messe lesen. Als Sibylle tritt die Mallorquinerin Margalida Rodríguez auf, die in Madrid Gesang studiert. Im Kloster Lluc beginnt die Messe bereits um 22 Uhr. Dort werden Kinder der Chorschule den Gesang aufführen. Beide Veranstaltungen werden gut besucht sein. Auch das Danach ist Tradition: Nach der Messe kommen Freunde oder Familie zu heißer Schokolade und Ensaimada zusammen. Und ein Fläschchen Cava wird meist auch noch geköpft - zur Feier des Weihnachtstages.
(aus MM 51/2014)
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