Auf den ersten Blick scheint alles ganz
normal. Die Geschwister sitzen im Zimmer und spielen, streiten sich
um Comic-Hefte, lachen. Sie teilen sich ein Kinderzimmer, gehen zur
Schule, machen Hausaufgaben, essen, schlafen. Doch der Schein
trügt. Das Kinderzimmer ist nicht im Elternhaus, zum Glück nicht,
denn dort haben diese Kinder eine grausame Zeit erlebt. Sie wurden
misshandelt und in den meisten Fällen jahrelang sexuell
missbraucht, meist von den Vätern. Die Mütter sehen weg,
Geschwister erleiden oft dasselbe Schicksal, egal ob sie zwei oder
zwölf sind, so steht es in den Berichten der Jugendfürsorge.
Margarita Vidaurreta ist Direktorin von einem der 15 Vereine auf
Mallorca, die obdachlose Kinder aufnehmen, deren Eltern auf Grund
von Missbrauch das Sorgerecht entzogen wurde. 20 Mädchen und Jungen
zwischen vier und 17 Jahren beherbergt die „Asociación Padre
Montalvo“ bisher in insgesamt drei Wohnungen in Palma. Dank
zahlreicher Spenden in den vergangenen Jahren steht dem Verein nun
ein ganzes Haus zur Verfügung, das Mitte Januar eingeweiht wird.
„Wir sind sehr froh, dass es endlich geklappt hat, denn der Platz
für die Kinder wurde allmählich knapp“, sagt die Leiterin der
„Asociación“.
Benannt ist der Verein nach dem mallorquinischen Jesuitenmönch
Ángel Montalvo, der sich lange Jahre in Indien um obdachlose Kinder
kümmerte und später Lehrer am Colegio Montesión in Palma war. Als
er 1984 starb, gründeten Freunde den Verein, um seine Arbeit
fortzuführen.
„Wir tun hier alles, um den Kindern die Rückkehr in ein normales
Leben zu ermöglichen, aber in manchen Fällen ist das fast
unmöglich“, sagt Margarita Vidaurreta, die ausgebildete
Kinderpsychologin ist. „80 Prozent der Kinder, die wir aufnehmen,
wurden in der eigenen Familie oft über Jahre sexuell missbraucht,
Jungen und Mädchen gleichermaßen“, erklärt die Leiterin. „Sie
kommen oft ausgehungert und vernachlässigt, aber vor allem schwer
traumatisiert zu uns. Und sie wissen, warum sie hier sind, wenn sie
fragen, sind wir hundertprozentig offen zu ihnen.“
Die Kinder kämen keinesfalls nur aus der sozialen Unterschicht,
sondern nicht selten aus normal situierten Mittelschichtfamilien.
„Viele der Eltern haben Probleme mit Alkohol oder Drogen,
vernachlässigen die Kinder völlig, aber sexueller Missbrauch oder
Misshandlung der eigenen Kinder hat nicht immer etwas mit Drogen-
oder Alkoholproblemen zu tun.“ Das Erschreckende sei, dass man
diesen Menschen oft die krankhaften Handlungen nicht ansehe. Dies
sei auch der Grund, warum diese Fälle nicht immer sofort entdeckt
würden. Meist seien es Lehrer oder Nachbarn, die das Jugendamt auf
Missstände aufmerksam machen. „Wird den Eltern daraufhin
tatsächlich das Sorgerecht entzogen, werden uns die Obdachlosen vom
Jugendamt, Abteilung Protección de Menores, zugeteilt.“ Die
meisten Minderjährigen seien froh, von zu Hause wegzukommen, in
eine Umgebung mit geregelten Mahlzeiten, sauberen Betten,
regelmäßigem Schulbesuch und Hilfe bei den Hausaufgaben. Doch
obwohl sich die Schützlinge nach rund sechs Monaten meist
körperlich gut erholt haben, sitzen die seelischen Verletzungen
tief. „Die Kinder leben hier rund um die Uhr mit Betreuern,
zusätzlich brauchen sie aber auch psychologische Behandlung“,
erklärt Margarita Vidaurreta weiter. Das Ausmaß des psychischen
Schadens, den die Eltern ihren Kindern angetan haben, zeige sich
oft erst nach einiger Zeit.
Die Arbeit, die insgesamt neun Erzieher, zwei Psychologen und
freiwillige Helfer verrichten, sei mühsam, aber lohnend. „Wir
schaffen es immer wieder, die Kinder nach ein oder zwei Jahren in
Pflegefamilien zu vermitteln, wo sie die Chance haben, ein normales
Leben zu führen.“ Jüngere ab drei Jahren würden in
Adoptionsprogramme gegeben, doch es seien eben keine Babys, sondern
Kinder mit Problemen, Kinder mit Geschwistern, das alles mache die
Adoption sehr schwierig.
Manche können nach einiger Zeit nach Hause zurückkehren, andere
bleiben im Zentrum, bis sie volljährig sind, weil sich niemand
findet, der sie aufnimmt.
Finanziell unterstützt wird der Verein „Asociación Padre
Montalvo“ vom Inselrat, ebenso wie die anderen 14 Einrichtungen,
die zusammen zurzeit rund 300 misshandelte Kinder auf Mallorca
betreuen. Auch die Stadt Palma engagiert sich: Bürgermeisterin Aina
Calvo hätten sie das 700 Quadratmeter große Grundstück für den Bau
des neuen Heimes in Palma zu verdanken, das die Stadt dem Verein
für einen Zeitraum von 75 Jahren verpachtet. Zusätzliches Geld
kommt ab und zu von Stiftungen wie der Fundación Sa Nostra,
Fundación La Caixa oder Fundación Porticus und von privaten
Spenden. Ab sechs Euro pro Monatsbeitrag kann man dem Verein
beitreten, private Spenden seien ebenso notwendig wie Praktikanten,
die bereit sind, mindestens ein halbes Jahr als Betreuer zu
arbeiten.
Wer Interesse hat zu helfen oder weitere Informationen über die
Arbeit des Vereins haben möchte, kann sich an Margarita Vidaurreta
unter der Telefonnummer 971-455193 wenden.
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