Für Victoria Cànaves bestand kein
Zweifel, seitdem sie bei ihren Spaziergängen den verschlossenen
Winkel am Friedhof von Alcúdia entdeckt hatte, jener Ort, an dem
Nicht-Katholiken einst beigesetzt worden waren. "Wenn ich einmal
sterbe, dann möchte ich unweit des hölzernen Ruders begraben
werden", sagte die passionierte Fotografin ihrer Mutter halb im
Scherz. "Welches Holzruder?", wunderte sich die Mutter. Ihr war das
Teil noch nie aufgefallen.
Doch ihrer Tochter ließ der Gegenstand keine Ruhe. War dort ein
Fischer zur letzten Ruhe bestatten worden - mit seinem
Lieblingsruder? Oder war es ein Stück Mast, für einen ertrunkenen
Matrosen? In die Nähe des Objekts kam sie nicht, ein Eisengitter
versperrt den Zugang. Also fotografierte Cànaves den Gegenstand und
vergrößerte die Aufnahme am Computer, bis sie lesen konnte, wer
dort im März 1924 beerdigt worden war. "Flight Lieutenant Kenneth
Cromar Tilman". Mehr noch, anhand des Lichtbilds wurde Cànaves
schlagartig klar, dass es sich bei dem verwitterten Holzstrunk um
den Flügel eines Propellers handelte. Nun gab es für die gelernte
Stewardess kein Halten mehr. Vor zwei Jahren begann sie, dem
Geheimnis des Grabes nachzuspüren und erlebte dabei immer wieder
Überraschungen.
"Ich wollte natürlich wissen, warum ein britischer Flieger 1924
ausgerechnet hier bei uns zur letzten Ruhe gebettet wurde, zusammen
mit dem Flugzeugteil. Wer war der Mann? Was war geschehen? Und
warum Alcúdia?" Die auf der metallenen Grabplakette eingravierten
Buchstaben "RAF" machten deutlich, dass es sich um einen
Militärangehörigen der "Royal Air Force", der britischen Luftwaffe,
gehandelt hatte.
Je mehr Victoria Cànaves Licht in das Dunkel zu bringen
versuchte, desto tiefer drang sie in die Geschichte ihres eigenen
Heimatdorfes ein. Dass das Städtchen auf dem schmalen Landstreifen
zwischen den beiden Buchten von Alcúdia und Pollença seit 1920 eine
wichtige Basis für die französische Fluggesellschaft Latécoère war,
die die Post zwischen dem Mutterland und den afrikanischen Kolonien
beförderte, war nur eines der vergessenen Details aus der
Dorfgeschichte, die Victoria Cànaves wieder ins allgemeine
Bewusstsein brachte. Alcúdia, ein Ort von ungebildeten Fischern und
Bauern? "Mitnichten, im Jahre 1924 etwa wurde das Fischerboot mit
Motor ausgestattet", fand sie bei ihren Recherchen heraus.
Doch was war mit dem Briten Kenneth Tilman? Allmählich
kristallisierte sich für Cànaves heraus, dass der verunglückte
27-Jährige der Bruder des zwei Jahre jüngeren William Tilman
gewesen ist. Für Briten hat der Name einen Klang wie für Deutsche
die Namen Luis Trenker oder Reinhold Messner.
William Tilman (1898 - 1977) war Bergsteiger, Entdecker,
Forscher, Fallschirmspringer, Extremsegler, Buchautor. In der
1930ern nahm er an Mount-Everest-Expeditionen teil, die
afrikanische Savanne durchquerte er 1933 per Fahrrad. Eine
Biographie bezeichnet ihn als "The last Hero", den letzten Helden
unserer Zeit, er verscholl beim Kreuzen im Südatlantik.
Es ist diese Biographie von Tim Madge, die auch Auskunft gibt
über den Tod des älteren Bruders: Kenneth Tilman befand sich als
Beobachter an Bord einer "Parnall", eines Doppeldeckers, der vom
britischen Kriegsschiff "Argus", einem der ersten Flugzeugträger
seiner Zeit, gestartet war. Doch unmittelbar nach dem Abheben
stürzte das Flugzeug ins Meer. Der Pilot wurde gerettet, Tilman war
sofort tot. Der Aufprall hatte die Maschine zerstört.
Der Beobachtungsflug war Teil einer Manöverübung gewesen, die
die britische Flotte 1924 vor Mallorca abhielt. Damals vereinten
sich dort die Mittelmeer- und die Atlantikflotte. Mehr als hundert
Schiffe ankerten vor den Küsten der Insel.
Tilman wurde in Alcúdia bestattet, der Propeller der
Unglücksmaschine wurde sein Grabkreuz.
Jahre später besuchten seine Geschwister das Grab, nahmen von
dort eine weiße Geranie mit, deren Ableger noch heute in England
blühen.
Jetzt hat Victoria Cànaves beim Inselrat beantragt, den Propeller
als historisches Kulturgut zu schützen. "Dieser hölzerne Grabstein
ist auch ein Teil unserer Geschichte", sagt die Forscherin. Der
Propeller mache deutlich, wie Mallorca schon damals in das moderne
Weltgeschehen eingebunden war.
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