Die gelben Bruchsteinhäuser sind übereinander
geschachtelt und gruppieren sich um einen Hügel, der genau zwischen
dem Tramuntanagebirge und dem Meer liegt. Meer und Berge sind von
Deià nur ein paar Kilometer entfernt. Und über allem thront wie ein
Sahnehäubchen die kleine Pfarrkirche, die dem Heiligen Johannes
geweiht ist. Die oft steil ansteigenden Straßen sind eng und
verwinkelt; selbst an heißen Sommertagen fließt immer wieder
Quellwasser aus den Bergen. Die Gärten sind prächtig - mit
Bougainvillea, Akanthus und Oleander.
Die Lage des Bergdorfes am Fuße des Berges Teix (1062 Meter
hoch), dem magische Kräfte zugesprochen werden, direkt oberhalb der
felsigen Küste ist einmalig. Auch durch sie wurde Deià bekannt.
Deià ist auf den ersten Blick das perfekte Dorf, die perfekte
Touristenattraktion. Es gibt einige hervorragende Restaurants,
mehrere Hotels, darunter das berühmte Nobelhotel "La Residencia"
und das Hotel "Es Molí", wo die deutsche Fernsehserie "Hotel
Paradies" gedreht wurde; dazu ein paar Bars, Läden und Boutiquen.
Im November vergangenen Jahres wurde Deià vom amerikanischen
Forbes-Magazin zu einem der zehn idyllischsten Plätze der Welt
gekürt.
Deià, heißt es, sei das Künstlerdorf der Insel. Ob das auch
heute noch stimmt? "In Deià zeigt sich das Blau des Mittelmeeres
wie in einem Einmachglas", sagt der englische Künstler Arthur
"Arturo" Rhodes, der seit 1981 in Deià lebt. "Das halte ich auch in
meinen Bildern fest." Die Bilder haben viel mit den alten Meistern
zu tun. Man sieht zum Beispiel ein Porträt des Malers van Gogh,
Leonardos "Mona Lisa" oder Vermeers "Mädchen mit dem Perlenohrring"
vor Deià als Hintergrund.
Fungiert das Dorf als Bühne? "Deià ist ein guter Platz", sagt
Rhodes. "Es hat kreative Energie, ist gut zum Malen und
Schriftstellern. Verrückte und Künstler kommen schon seit 200
Jahren." Einer der Ersten war der französische Zeichner und
Illustrator Gustave Doré (1832 - 1883); er wurde von Baron
Davillier begleitet, der Deià als "charmantes Dorf, umgeben von
Zitronenbäumen" bezeichnete. Der katalanische Maler und
Schriftsteller Santiago Rusinyol (1861 - 1931) sprach vom
"Spielzeugdorf". Er war einer der Ersten, der an der Cala de Deià
mit Künstlerfreunden die beeindruckenden Sonnenuntergänge feierte.
Was die Dorfbewohner befremdete.
Wie viele Dorfbewohner - heute zählt Deià rund 700 Einwohner -
seinerzeit die erotischen Erzählungen der amerikanischen Autorin
Anaïs Nin (1903 - 1977), die in der Cala de Deià spielen, gelesen
haben, weiß man nicht. Begeistert gewesen wären sie vermutlich
nicht von den Schilderungen des mallorquinischen Fischermädchens
María und ihren Erlebnissen mit einem ausländischen Ehepaar.
Von 1933 bis zum Ausbruch des spanischen Bürgerkrieges 1936
lebte der deutsche Schriftsteller Albert Vigoleis Thelen (1903 -
1989) auf Mallorca. In seinem Roman "Die Insel des zweiten
Gesichts" schildert er auch Deià: "Deià ist schlechterdings
phantastisch, unerhört, reizvoll, wirklich lohnend, wo weltberühmte
Maler sich niedergelassen haben. Bunt eingesprengt leben auch ein
paar Schriftsteller dort, ein paar Philosophen, der und jener
Vegetarier; ein rumänischer Wahrsager, eine italienische
Koloratursängerin, deren Verzierungen schon alle abgebrochen waren;
ein Dutzend Bildhauer und ein sehr gesuchter Porträtphotograph, ein
Russe. Am einen Ende des Dorfes wohnte Graves." Natürlich - Robert
Graves. Im deutschen Sprachraum Robert Ranke Graves (1895 - 1985).
Er war Literaturfreunden schon bekannt, bevor er nach Mallorca kam.
Vor allem durch seine frühe Autobiografie "Strich drunter!" (1929),
die gnadenlos seine Erlebnisse aus dem Ersten Weltkrieg schildert.
Er lebte von 1929 bis 1936 in Deià, dann in England, kehrte 1946
nach Mallorca zurück, wo er bis zu seinem Tod lebte. Von 1961 bis
1966 lehrte er als Professor Poetik in Oxford. Seine Bibliografie
umfasst etwa 140 Bücher.
Wichtigste Veröffentlichungen sind "Ich, Claudius, Kaiser und
Gott" (1934), "Die Weiße Göttin" (1948), "Griechische Mythologie"
(1955).
Er schrieb auch über die Insel, auf der er sich sehr zu Hause
fühlte. Seine Impressionen sind in dem mallorquinischen Verlag
"Olaneta" unter dem Titel "Por qué vivo en Mallorca" erschienen.
Deià erhält hier das Pseudonym "Binijiny".
Das Buch ist mit feinem, subtilem Humor geschrieben, voller
Anekdoten und Geschichten. Die wundersamen Illustrationen stammen
von dem englischen Grafiker und Zeichner Paul Hogarth, der
ebenfalls viele Jahre auf Mallorca lebte und mit Robert Graves
befreundet war. Auf Deutsch heißt das Buch "Geschichten aus dem
anderen Mallorca", erschienen in der Verlagsgruppe "Reise Know How"
und den Bänden ,,Collected Short Stories" und "Majorca Observed"
entnommen.
Robert Graves wurde bald zum Mythos in Deià. Nicht umsonst ist
das von ihm und seiner Familie einst bewohnte Haus Can Alluny heute
Museum, in dem Werk und Leben des Meisters liebevoll und
kenntnisreich dokumentiert sind. Das Graves-Haus gibt einen
Eindruck des Mallorca der 40er und 50er Jahre, das Buch ergänzt das
Gesehene.
Interessant sind im Museum auch die Fotos all derer, die Graves
nach Deià zog. Das meiste Aufsehen erregte die
Hollywood-Schauspielerin Ava Gardner, die 1955 zwar nur kurz kam,
aber der Familie Graves in Freundschaft verbunden blieb. Außerdem
kamen: Sir Alec Guinness, Sir Peter Ustinov, Gabriel García
Marquez, Kingley Amis, Michael Caine, Allan Sillitoe und José Luis
Borges, um nur einige zu nennen. Sie alle bewunderten Robert
Graves. Zu seinen Kritikern gehörte Anthony Burgess. Er war der
Meinung, Deià habe wenig mehr zu bieten außer dem
Graves-Zauber.
Robert Graves starb in Deià und wurde auf dem Friedhof hoch oben
über dem Dorf begraben. Auf dem Grabstein sind sein Name und seine
Lebensdaten verzeichnet. Und die Bezeichnung "Poeta" (Dichter).
Dazu zwei zerlesene Exemplare seiner Claudius-Romane, eine
halbvolle Flasche Whisky und eine rote Papierblume, das
Ehrenzeichen der britischen Kriegsveteranen aus dem Ersten
Weltkrieg. Whisky und Romane hätten ihm gefallen, das militärische
Ehrenzeichen eher nicht. Inzwischen ist die nächste Generation in
Deià präsent. Die Zeiten haben sich geändert.
Im nächsten MM: Deià, wie es heute ist
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