Lore Krüger ist eine zierliche, weißhaarige Dame von 91 Jahren –
mit hellwachem Geist und messerscharfem Verstand. Sprachliche
Schwammigkeiten lässt die Übersetzerin von über 30 Büchern nicht
durchgehen: „Ich sagte britisches ,Kriegsschiff', nicht ,Kreuzer'”,
betont sie. „Ob es ein Kreuzer war, kann ich nicht sagen,
vielleicht aber war es einer.”
Das britische Kriegsschiff spielte in ihrem Leben eine wichtige
Rolle. Auf dem Militärfahrzeug verließ Lore Krüger – damals hieß
sie noch Heinemann – im September 1936 Mallorca. Auf der Insel war
wenige Wochen zuvor der Spanische Bürgerkrieg ausgebrochen. Das
Kriegsschiff, vollgestopft mit Flüchtlingen, nahm Kurs auf
Marseille. Für die deutsche Jüdin Lore (22) und ihre eineinhalb
Jahre jüngere Schwester Gisela, sie besaßen beide ein Visum für
Frankreich, war es eine Fahrt in die Freiheit und relative
Sicherheit (zumindest bis Hitler das Land überfiel).
Die Eltern der beiden Schwestern blieben indes auf der Insel
zurück. Warum reisten sie nicht mit aus? Sie hatten kein Visum,
sagt Lore Krüger und fasst die damaligen Zeiten in einem Satz
zusammen: „Von einem Stück Papier hing das Leben ab.”
Die Eltern sahen sich auf Mallorca immer stärker bedrängt vom
langen Arm der Gestapo, der Geheimen Staatspolizei des Nazireiches,
sowie den spanischen Helfershelfern. Die Waffenhilfe, die Hitler
General Franco während des Bürgerkrieges zukommen ließ, hatte die
Grundlagen für die Zusammenarbeit geschaffen.
Den Eheleuten Heinemann drohte auf Mallorca die Zwangsausweisung
nach Deutschland. Das Paar wusste schließlich keinen Ausweg mehr
und nahm sich 1940 das Leben. Endstation Selbstmord auf der
Sonneninsel.
Ernst und Irene Heinemann waren bereits im August 1933 von
Magdeburg nach Mallorca ausgewandert. Das deutsche Ehepaar
jüdischen Glaubens, wenn auch nicht praktizierend, sah in der
Heimat keine Zukunft mehr für sich. Am 30. Januar desselben Jahres
war Hitler zum Reichskanzler ernannt worden, am 1. April riefen die
Nazis zum Boykott jüdischer Geschäfte auf, am 10. Mai wurden die
Bücher jüdischer wie politisch missliebiger Dichter und Denker
verbrannt.
Ernst Heinemann, geboren 1878 in Bielefeld und studierter
Diplomingenieur, hatte seinen Arbeitsplatz beim Heizungsbauer
American Radiator Corporation in Magdeburg während der
Weltwirtschaftskrise zu Beginn der 30er Jahre verloren. Der
ehemalige Arbeitgeber zahlte dem 55-Jährigen jedoch die Rente eines
einfachen amerikanischen Arbeiters. Mit dem Einkommen konnte sich
das Ehepaar auf Mallorca gut über Wasser halten.
Warum zog das Ehepaar auf die Insel? „Mallorca was schön,
Mallorca war billig, und es war weit weg von Deutschland”, sagt
Lore Krüger. Weitere Gründe sprachen für das Eiland: Spanien war
seit 1931 Republik und eines der wenigen Länder, für die es leicht
war, Einreisevisa und Aufenthaltsgenehmigungen zu erhalten. Und wie
in heutiger Zeit wurden bereits damals die klimatischen und
landschaftlichen Reize der Insel gepriesen.
Die „Insel der Ruhe” erlebte in den 30er Jahren ihre erste
touristische Boomphase. Andere wiederum zog es dauerhaft nach
Mallorca: Neben jüdischen und politischen Emigranten suchten auch
deutsche Handwerker, Gastronomen, Glücksritter, Rentner und Reiche
ihr Heil lieber unter südlicher Sonne als im Chaos der Weimarer
Republik und im „erwachten” Deutschland. Vor dem Ausbruch des
Spanischen Bürgerkrieges 1936 lebten in Palma rund 3000 Deutsche.
Zum Vergleich: Im Jahre 2003 waren rund 3350 gemeldet.
Ernst und Irene Krüger wohnten zunächst zur Miete in einem
kleinen Häuschen in der Calle Beethoven 23, etwa zwei Jahre später
zogen sie in die Calle de la Bonanova 82 (der heutigen Carrer
Robert Graves) im damals bei ausländischen Residenten beliebten
Villenviertel El Terreno.
Tochter Lore hatte unter dem Eindruck der Kanzlerschaft Hitlers
Deutschland bereits im April 1933 verlassen, nachdem sie zuvor
wegen ihrer jüdischen Herkunft ihre Ausbildungsstelle als Lehrling
in einer Bank in Magdeburg verloren hatte. Die 19-Jährige wurde in
England Hausangestellte, obgleich sie nicht einmal kochen
konnte.
1934 folgt Lore Krüger ihren Eltern nach Mallorca und
lernt nach Englisch in kürzester Zeit Spanisch. Noch im selben Jahr
absolviert sie schließlich eine Ausbildung zur Fotographin in
Barcelona.
1935 geht Lore Krüger nach Paris, wird Schülerin der
Porträtfotographin Florence Henri, die ihrerseits am Bauhaus in
Dessau studiert hatte. Neben der Fotoausbildung studiert Lore
Krüger, die sich rasch Französisch angeeignet hat, an der „Freien
Deutschen Hochschule” Dialektische Geschichte und Philosophie sowie
an der Sorbonne die Geschichte der Französische Revolution.
Schwester Gisela lernt unterdessen in Paris Schneiderin.
In den Sommerferien besuchen die Töchter ihre Eltern auf
Mallorca. 1936 wird der Aufenthalt indes vom Ausbruch des
Spanischen Bürgerkrieges in den Schatten gestellt. Obgleich die
Familie in den Sommermonaten 1937 und 1938 erneut zusammenkommen
kann, sind die Eltern in ihren schwärzesten Stunden von den
Töchtern und der übrigen Welt abgeschnitten.
Es ist der 24. Juli 1940. Die deutsche Wehrmacht hat Polen,
Dänemark, Norwegen, Holland, Belgien und Luxemburg besetzt. Am 22.
Juni hat sogar Frankreich kapituliert. Hitler befindet sich auf
einem der Höhepunkte seiner Macht, sein Rückhalt in der deutschen
Bevölkerung ist so groß wie nie zuvor. Parallel zu den Siegen in
den Blitzkriegen wird die Verfolgung der Juden in Europa
verschärft. Es gilt, aller erreichbaren Juden im deutschen Macht–
und Einflussbereich habhaft zu werden, um sie zu vernichten.
In Palma bekommen auch Ernst und Irene Heinemann den Druck immer
stärker zu spüren. Mallorquinische Historiker haben darauf
hingewiesen, wie die Gestapo aufgrund guter Beziehungen zu den
spanischen Behörden etwa mit der Policía Nacional kooperieren
konnte. Mitte Juni 1940 geht dem Ehepaar ein Schreiben der
spanischen Polizei zu, das sie auffordert, die Insel innerhalb von
zehn Tagen zu verlassen.
Ernst und Irene Heinemann wissen, dass sie so gut wie keine
Aussicht haben, ein Visum für ein gefahrloses Drittland zu
erhalten. Gleichwohl entstehen noch einmal zwei Aufnahmen, die als
Passbilder dienen sollen. In den Gesichtszügen ist den beiden die
Anspannung deutlich anzusehen. Die gelernte Kindergärtnerin Irene
Heinemann, geboren 1889 in Kassel, ist zudem herzkrank. Hinzu kommt
die Sorge um die Töchter: Die Eltern wissen, dass Lore und Gisela
beim Einmarsch der Deutschen in Frankreich am 10. Mai 1940 von den
Pariser Behörden wie alle deutschen Residenten zu „feindlichen
Ausländern” erklärt und in dem berüchtigten Lager Gurs bei Toulouse
interniert worden sind.
Ohne einen Ausweg in Sicht und unmittelbar von der Auslieferung
an Nazi-Deutschland bedroht, entscheiden Ernst und Irene Heinemann,
ihrem Leben mit Schlaftabletten ein Ende zu setzen. In der
Mietwohnung wird ein Abschiedsbrief aufgesetzt, in dem die Eltern
ihrer Verzweiflung Ausdruck geben, den Töchtern nicht mehr helfen
zu können. „Seid tapfer, wenn Ihr diesen Brief bekommt”, beginnt
Irene Heinemann das Schreiben. Anschließend richtet Ernst Heinemann
das Wort an seine zwei Mädchen. Im Bemühen, ihnen seine Beweggründe
nahe zu bringen, schreibt er: „Ich kann nicht zusehen, wie grausame
Polizisten Mutti zu Tode quälen.” Dann wird es still, in dem
kleinen Haus in El Terreno.
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