Lange bevor die weißen Götter nach Mexiko kamen, lebte am Rande
der Blauen Wasser ein schöner, junger Mann, der hieß Xocolatl. In
der Nachbarhütte lebte Vanila, das schönste Mädchen, das je sein
Antlitz in den Blauen Wassern gespiegelt hatte. Xocolatl liebte
Vanila und Vanila liebte Xocolatl. Alle wussten es, aber niemand
war neidisch. Das Glück der Liebenden machte auch die Nachbarn
glücklich. Denn wer sie sah, dem wurde wohl im Magen und warm ums
Herz.
Zur selben Zeit lebte am Rande der Blauen Wasser ein Zauberer.
Der konnte Vögel in Drachen verwandeln und Sonnenstrahlen in
giftige Dolche. Er war ein böser Zauberer, ein Freund des Unheils.
„Heil dir, Unheil”, rief er. „Dank, dass du mir dienst. Womit kann
ich dir dienen?” „Mit Unheil”, antwortete das Unheil. „Das ist mein
Glück!” „Wind”, rief der Zauberer, „komm herbei. Wachs mir zum
Sturm!” Und der Wind wuchs und wurde zum Orkan. „Wölkchen”, rief
der Zauberer. „Wolken, herbei! Bläht euch, türmt euch zu
Ungewittern.”
Und die weißen Wolken, die im Himmelsblau schwebten, türmten
sich zu Hagelbergen, schwollen zu schwarzen Wassersäcken. Der Sturm
zerfetzte sie und peitschte die Fetzen gegen den Berg. Die Blauen
Wasser stürzten in grau–gischtigen Kaskaden zu Tal und zerrissen
die Hütten der Menschen. Der Sturm trug die Trümmer fort. Die
Menschen ertranken, auch Vieh, Bäume und Blumen und die Saat auf
den Feldern.
„Gut, Zauberer,” freute sich das Unheil. „Du dienst mir gut.
Dien mir noch besser!” „War dir nicht genug, was ich vollbracht?”
ärgerte sich der Zauberer und höhnte: „Wer dient denn wem? Ich dir?
Du mir? Wie eilig du es hast, wenn ich dich rufe: Heil Unheil. Und
schon bist du da. Doch bis du nichts ohne mich. Nichts.” „Nichts!”
äffte das Echo. Das Unheil aber lachte , und das Gelächter hallte
über die Blauen Wasser, prallte gegen die Felsen, erklirrte in
tausend winzige Gelächterfetzen, die dem Zauberer messerscharf ins
Gesicht schnitten. „Fluch dir, Unheil”, schrie der Zauberer und
verkroch sich in seine Höhle. Rache brütend, wie er dem Unheil
Unheil beschere, hockte er düster grübelnd bis zum
Morgengrauen.
Als die Sone aufging, sah er jenseits der Blauen Wassser zwei
Menschen, einen Mann und ein Mädchen. Rasch wollte er „Heil dir,
Unheil” rufen, da fiel ihm ein, dass er mit dem Unheil zerstritten
war. Er verschluckte, was er sagen wollte, und schickte schweigend
böse Blicke zum anderen Ufer.
Nackt und schön, wie das Unheil sie aus dem Schlaf gerissen
hatte, standen Vanila und Xocolatl im Morgenlicht. „Den Göttern sei
Dank”, sagte das Mädchen und umarmte den Geliebten. „Wir sind
gerettet.” „Dank den guten Göttern”, sagte der Mann, „die dich und
mich und unser Glück beschützen. Wir wollen eine neue Hütte bauen.
Komm, lass uns gleich beginnen! Der Himmel ist freundlich.”
„Ich bin dein”, sagte das Mädchen und umarmte den Mann noch
fester. „Und du bis mein. Wir sind verzaubert, sind wie Baum und
Orchidee, zwei Wurzeln, die zu einer Pflanze wuchsen. Nur eine
einzige Hütte lass uns bauen, nur eine für uns beide. Ich helfe
dir. Heute abend, wenn die Sonne sinkt, will ich mit dir in unserer
Hütte sein.” Fest umschlungen standen sie da und der Glanz des
Glückes umfing sie.
Der Zauberer war geblendet. Zerbrach der Glanz des Glückes ihm
die bösen Blicke? Entglitt ihm seine Zauberkraft? Irrten seine
Hände, als er Zauberzeichen formte? Die Runen des Unheils versagten
den Dienst. Aufsässig wehrte sich der Zauberspruch, der Mann und
Mädchen treffen sollte.
Verwirrt schloss der Zauberer die Augen und rief: „So und nicht
anders seid gebannt auf immer! So wie ihr jetzt da steht, steht und
bleibt stehen bis zum Ende der Zeiten!”
„Miserabel gezaubert!” höhnte das Unheil. „Misslungen,
misslungen ... ” äffte das Echo. Vorsichtig öffnete der Zauberer
die Augen und besah, was er vollbracht hatte: es war ein
stattlicher Baum, den eine Orchidee mit gelben, duftenden Blüten
umrankte.
„Fluch dir, Unheil!” rief der Zauberer. „Dienst du mir nicht,
dien ich mir selbst.” Und er packte einen Schmetterling und warf
ihn ans andere Ufer.
Der Baum trug Früchte, in denen braune Samenkörner ruhten. Der
Zauberer nahm die Samenkörner und zerrieb sie zu einem Pulver. Dann
nahm er die Schoten, die aus dem Wundergelb der Orchideenblüte
wuchsen, zerbrach sie und mischte ihr duftendes Pulver mit dem
Pulver aus dem Samen des Baumes. Schließlich braute er, Gift zu
Gift beschwörend, aus den Pulvern einen schaumigen Trank. Das
Unheil, das ihm hämisch zusah, weiß allein, warum sich abermals dem
Zauberer Hände, Zunge und Hirn verwirrten.
Sein Trank missriet, bewirkte weder Tod noch Unheil. Nicht
einmal die Weißen Götter starben, wenn sie davon tranken. „Wer
diente wem?” krächzte das Unheil. „Ich dir? Du mir? Du riefst und
ich kam. Doch weil ich kommen wollte, nicht weil du riefst! Du
Dummkopf, ohne mich bist du nichts!” „Nichts ...” äffte das Echo.
Was sollte der Zauberer tun? Manche Märchenerzähler sagen, er habe
sich in Nichts verwandelt. Andere behaupten, er trank am Ende
selbst von seinem Zaubertrank, wurde ein guter Zauberer und
verwandelte Feuer speiende Drachen in zwitschernde Vögel.
Wie übrigens der Zauberer hieß? Er hieß Nuntutún. So heißt auch
das Gasthaus am Ufer des Sees, in den die Blauen Wasser münden.
Hier kredenzt eine Alte den Trank wie in alter Zeit, lange bevor
die Weißen Götter kamen. „Trink, Fremder”, sagt sie, „trink dir die
Liebe zu.” Denn im Liebestrank von Xocolatl und Vanila lebt die
Liebe fort, heute und hier, bis zum Ende der Zeit.
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