Mein Pferd kann rechnen, verkündete ein stolzer
Mathematik-Professor Anfang des vergangenen Jahrhunderts. Er wurde
nicht müde, den skeptischen Wissenschaftlern immer wieder den
Beweis anzutreten, dass das kleine Einmaleins samt Wurzelziehen für
seine Intelligenzbestie kein Problem sei. Mit den Hufen scharrte
das Tier gerade so oft, bis jeweils das richtige Ergebnis der
Rechenaufgaben erreicht war, die sein Besitzer ihm stellte. Ein
Wunder? Ein Einstein des Tierreichs?
Mitnichten. „Schließlich hat man herausgefunden, dass das Pferd
so stark auf den Mann fixiert war, dass es auf kleinste Anzeichen
reagierte”, erklärt die Biologin Sevgi Yaman. War die richtige Zahl
erreicht, muss der Mathe-Lehrer unbewusst Signale ausgesendet
haben, die das sensible Tier offenbar richtig zu interpretieren
wusste. In der Wissenschaft bezeichnet man dieses Phänomen als
„Clever-Hans-Syndrom”.
Der Umkehrschluss lag nahe, dass Tiere also doch nicht rechnen
können. „Das hat die Forschung auf diesem Gebiet lange
zurückgeworfen.” Studien über die „numerischen Fähigkeiten” von
Tieren gibt es bislang vor allem bei Arten, die an Land leben. Mit
ihrer Doktorarbeit über das Potential, das Delfine in dieser
Hinsicht haben, betritt die Deutsche türkischer Abstammung ein
relativ unerforschtes Gebiet.
Nach einer zweijährigen Testphase mit den Tümmlern im Marineland
in Costa d'en Blanes liegen jetzt Ergebnisse vor. Wer gerne hören
würde, dass Delfine zählen oder gar rechnen können, wird
enttäuscht. Vielmehr geht es um die Frage, ob Delfine in der Lage
sind, zwei Mengen in Form von visuellen Reizen miteinander zu
vergleichen und ob sie das Erlernte auf bislang noch nie dagewesene
Mengen anwenden können.
Um das „Clever-Hans-Syndrom” auszuschließen, versteckt sich die
Forscherin bei ihren Tests mit „Blue”, dem einzigen Männchen der
Delfine im Marineland, hinter einer Abdeckung. Die Reize mit den
Mengen – in etwa kann man sie mit den Augen eines Würfels
vergleichen – sind auf einem Klappmechismus angebracht. „Blue”
wurde zunächst darauf trainiert, auf Kommando immer den Reiz mit
der kleineren Menge mit dem Schnabel anzutippen. Dann sollte er
dieses Konzept (weniger ist richtig, und mehr ist nicht richtig)
auf Reizpaare übertragen, die er vorher noch nie zu Gesicht
bekommen hat. Fazit der Forscherin: Der Delfin kann das Konzept
anwenden. Je geringer die Differenz zwischen den Reizpaaren und je
größer die Anzahl, desto schwieriger ist es für ihn.
Hunderte, Tausende von Testreihen hat der Delfin mittlerweile
absolviert. Freiwillig. „Wenn Delfine keine Lust haben, dann machen
sie auch nicht mit”, sagt Sevgi Yaman. Zum Glück seien die Tiere im
Marineland in der Regel durchweg arbeitswillig und begierig darauf,
Neues zu lernen. Und zum Glück sei „Blue” auch kein Einfaltspinsel:
Mit vergleichsweise intelligenten Tieren könne man leichter das
Machbare erforschen als mit einer Dumpfbacke, wie sie auch unter
den Meeressäugern vorkommen.
Rechnen ist eine komplexe Angelegenheit. Wer sich in seine
Kindheit zurück versetzt, erinnert sich vielleicht noch daran, wie
er am Anfang die Finger oder Äpfel zu Hilfe nahm, um sich bei den
Rechenvorgängen eine Brücke zur greifbaren Welt zu schaffen.
„Zählen ist ein abstrakter Vorgang, der eine hohe geistige Leistung
voraussetzt”, so die Biologin. Lange Zeit sei man davon
ausgegangen, dass nur sprechende Lebewesen numerische Fähigkeiten
haben. Über die Versuche mit Tieren sei man auch zur Erkenntnis
gekommen, dass bereits Säuglinge und Kleinkinder größere geistige
Fähigkeiten besitzen, als man vermutete.
„Viele Tiere haben gewisse Vorstellungen von Mengen”, so Sevgi
Yaman. „Das bringt aus biologischer Sicht Vorteile.” So weiß der
Affenpascha zum Beispiel ungefähr, wie viele Weibchen er im Harem
hat. Die Katzenmutter hat mehr oder weniger im Blick, wie viele
Jungen sie geworfen hat. Und der Hund kann erfassen, in welchem
Futternapf mehr zu fressen ist. Der Graupapagei ist sogar in der
Lage, eine bestimmte Anzahl von Objekten zu erkennen – und sie
verbal wiederzugeben. So kann er zum Beispiel aus einer Reihe von
Autos die Anzahl der grünen Fahrzeuge herausfinden und „drei”
sagen.
Auch die Ratte sei nach entsprechendem Training in der Lage,
eine bestimmte Anzahl von akustischen Reizen abzuwarten, bevor sie
zu fressen anfängt. Für die Wissenschaftler bedeutet das aber noch
längst nicht, dass das Tier deshalb zählen kann: „Wer zählen kann,
der kann diese Fähigkeit auf verschiedene Sinne übertragen”, so die
Biologin. So könne der Graupapagei die richtige Anzahl zwar visuell
erfassen, aber nicht durch das Gehör oder den Tastsinn.
Bei im Wasser lebenden Tieren gab es solche Tests und Studien
bislang noch nicht. „Meeressäuger sind dabei von besonderem
Interesse, weil sie höher entwickelt sind. Für Fische wären die
Versuche, die ich mit den Delfinen gemacht habe, nicht fassbar.”
Intelligenz werde auch definiert durch die Fähigkeit des
Konzeptlernens, also durch die Möglichkeit, erlerntes Wissen auf
neue Aufgaben anzuwenden.
Noch komplizierter sei es, durch Beobachten zu lernen.
„Voneinander lernen zu können, ist die Basis von Zivilistaion und
Kultur. Das setzt komplexes Denken voraus”, meint die Biologin.
Genau darum geht es in einer weiteren Testphase, die sie mit den
weiblichen Tieren im Delfinarium durchführt. Diese Tests sind fast
abgeschlossen. „Es sieht ganz gut aus.” Für die Wissenschaft wäre
diese neue Erkenntnis eine kleine Sensation.
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