Wenn die Sibylle auf die Kanzel tritt, wird es schwermütig. | Ultima Hora

TW
0

Kein Weihnachten auf Mallorca ohne den Cant de la Sibil·la. Der Gesang der Sibylle ist eine der ältesten, wenn nicht gar die älteste Tradition Mallorcas. In vielen Kirchen Mallorcas erklingt er an Heiligabend zur Christmette. Doch von wegen „Stille Nacht” oder „Oh, du fröhliche”. Als Sibylle steht, je nach Kirche, ein Kind oder eine junge Frau auf der Kanzel oder vor dem Altar. Bekleidet mit einer Tunika hält sie ein Schwert vor sich in die Höhe und singt mit reiner Stimme von der Wiederkehr des Anti-Christen, vom Feuer, das vom Himmel herab prasselt und sämtliche Gewässer verbrennt, von schreienden Fischen, und dergleichen mehr. Im Wechsel mit dramatischen Zwischenspielen der Orgel kündigt sie das Jüngste Gericht an, um am Ende die Jungfrau Maria und ihren Sohn anzurufen.

Die Sibyllen waren antike Seherinnen. Einige von ihnen wurden jedoch ins christliche Zeitalter übernommen, darunter auch die Sibylle von Erythrai. Ihre apokalyptischen Prophezeiungen waren bestens kompatibel mit dem Jüngsten Gericht in den Evangelien, weshalb sie sich problemlos christianisieren und in die Liturgie aufnehmen ließen.

Die älteste handschriftliche, lateinische Fassung dieses Gesangs stammt aus dem 10. Jahrhundert aus dem Kloster Saint Marcial in Limoges. Zur ersten Jahrtausendwende nach unserer Zeitrechnung erwarteten tatsächlich weite Teile der Christenheit den Untergang der Welt. Doch das Universum blieb bestehen, und mit ihm der Cantus Sibyllae, wie er auf Lateinisch heißt. Er breitete sich zügig auf der spanischen Halbinsel, in Frankreich und Italien aus. Die erste katalanische Version kam mit Jaume I. nach Mallorca.

Zu dieser Zeit war der Cant de la Sibil·la Teil eines sakralen Schauspiels, bei dem der Heilige Augustinus nacheinander verschiedene biblische Propheten befragte. Unerwünschte Nebenwirkung: Statt religiöser Andacht herrschte in den Kirchen mitunter „Gelächter, Lärm, Geplapper und Durcheinander“, wie es in alten Quellen heißt.

Ähnliche Nachrichten

Nach dem Konzil von Trient (1545-1563) verschwand die Sibylle fast überall aus den Gottesdiensten. Nur auf Mallorca und in Alghero auf Sardinien sang sie über die Jahrhunderte weiter. Und zum Stolz der Mallorquiner wurde dieser Brauch 2010 in die Unesco-Liste des immateriellen Welterbes der Menschheit aufgenommen.

Was die Unesco tatsächlich auf die Liste gesetzt hat, ist laut dem Theologen und Philologen Gabriel Seguí zwar der mittelalterliche Text, jedoch mit Musik des 19. Jahrhunderts, die in einem orientalischen Ton gehalten ist, wie es damals der Mode entsprach. Ursprünglich erklang an ihrer Stelle gregorianischer Gesang, und zwar aus dem Mund eines Priesters oder Knaben, der „wie ein Fräulein“ gekleidet war. Erst seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil in den 1960er Jahren dürfen Mädchen und Frauen in die Rolle der Sibylle schlüpfen.

Die Erklärung des Sibyllengesangs zum Weltkulturerbe hat unter anderem dazu geführt, dass er über die Weihnachtsliturgie hinaus zum Thema von Essays und Vorträgen geworden ist, ebenso Gegenstand verschiedener Musikaufnahmen. Sogar in Genres wie Jazz, Weltmusik und Heavy Metal wurde er aufgegriffen. Auch geografisch hat er sich nach mehr als 400 Jahren erneut ausgebreitet: Mittlerweile wurde der Gesang in den Kathedralen von Barcelona, Tarragona und Valencia wieder eingeführt.

Änderungen gibt es inzwischen auch bei der Uhrzeit der Christmette. Laut der Übersicht des Bistums findet sie nur noch an zwei Orten um 23 Uhr statt: In der Kathedrale in Palma, was das Regionalfernsehen IB3 live überträgt, und in der Kirche von Orient. Ansonsten beginnt die „Nit de Maitines” je nach Kirche zwischen 17 und 20.30 Uhr, in der Clinica Rotger in Palma findet die Messe gar am helllichten Mittag um 12 Uhr statt. Die Übersicht findet sich auf der Website des Bistums ( www.bisbatdemallorca.org ).