Ausgewachsene Schwertwale können bis zu zehn Meter lang werden und knapp sieben Tonnen wiegen. Sie sind die größten Raubtiere der Ozeane.Seit ein paar Jahren mehrt sich die Zahl ihrer Angriffe auf bemannte Segelyachten. Gründe für dieses Verhalten sind Meeresbiologen einabsolutesRätsel. | Circe

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Letztendlich waren es nur wenige Minuten, doch für Frank Rathke schienen sie eine Ewigkeit: Es ist der 16. September 2022 kurz nach zehn Uhr vormittags, als das Segelboot des Deutschen rund 21 Seemeilen westlich der nordspanischen Hafenstadt Vigo plötzlich durch einen harten Schlag gestoppt wird. Die Ursache: ein ausgewachsener Schwertwal, der mit der 16 Meter langen Yacht scheinbar zu spielen beginnt, sie durchs Wasser schubst und kreiselt, als wäre sie ein Spielball.

Doch es ist alles andere als Spaß, was sich vor den Augen des Deutschen abspielt. Mit blankem Entsetzen muss er mitansehen, wie das von Natur aus größte Raubtier der Ozeane seine mächtigen Kiefer um das zwei Meter tiefe Ruder schlägt, und dabei gleichzeitig versucht, die Steuerungsanlage mit brutalen Schlägen seiner Flossen in Kleinstteile zu zertrümmern.

Die am Ende halbwegs glimpflich ausgehende Begegnung zwischen Segelboot und einem im Volksmund als Killerwal bezeichneten Meeressäuger ist nur eine von mehreren Erzählungen, die der deutsche Journalist Thomas Käsbohrer in seinem Anfang dieses Jahres erschienenen Buch „Das Rätsel der Orcas” schildert, um anschließend die Frage aufzuwerfen, was die Gründe für diese sowohl vollkommen abnormalen als auch lebensbedrohlichen Angriffe der Tiere auf Menschen sind.

Zu diesem Zweck begab sich Käsbohrer, der einen Großteil des Jahres in seinem Zweithaus-Domizil in Pollença verbringt, über viele Monate lang mit seinem Segelboot „Levje” auf Spurensuche entlang der sogenannten Orca-Route, die von der Meerenge Gibraltars entlang der Küsten Westeuropas bis nach British Columbia und in die Antarktis reicht. Unterwegs hörte er sich Augenzeugenberichte von betroffenen Seglern und Fischern an, wertete von ihnen gemachtes Foto- und Videomaterial aus, sprach mit Meeresbiologen, Naturschützern und Orca-Trainern. Sein Fazit: „Die in den vergangenen Jahren in der Presse veröffentlichten Berichte über Walangriffe auf Segelboote sind keineswegs Einzelfälle”, sagt Käsbohrer. Ganz im Gegenteil. Sowohl die portugiesische und spanische Küstenwache als auch das Forschungsinstitut für die Beobachtung von Walen und deren Verhaltensweisen Circe registrierten seit etwa 2010 eine stetige Zunahme solcher Angriffe, die Käsbohrer als unnatürliche Interaktionen zwischen Mensch und Tier bezeichnet. „Allein vor der galicischen Küste bei La Coruña werden mittlerweile pro Jahr 300 solcher Interaktionen aufgezeichnet”, so Käsbohrer. Die Dunkelziffer dürfte sogar noch weitaus höher liegen, glaubt er.

In 80 Prozent aller Fälle handelt es sich bei den Opfern von Orca-Angriffen um Segelboote zwischen 8 und 13 Meter Länge. Der verbleibende Rest entfällt auf Schlauchboote, Katamarane und Motoryachten. Schwertwale greifen zudem in der Regel in einer Herde von vier bis sechs Tieren an, es sei nach nicht bewiesenen Augenzeugenberichten aber auch schon vorgekommen, dass bis zu 40 Orcas Jagd auf ein Schiff gemacht hätten.

Über die Gründe für dieses atypische Verhalten herrscht unter Fachexperten und Wissenschaftlern bis heute totale Uneinigkeit. „Es gibt verschiedene vermeintlich plausible Erklärungen und Theorien, die das Verhalten der Orcas begründen sollen”, sagt Käsbohrer. Eine davon ist beispielsweise eine Art von Futterneid. „Schwertwale, die sich zum Großteil von Thunfischen ernähren, könnten in den Booten eine Konkurrenz im Nahrungskampf sehen”. Eine andere Theorie besagt, dass eine bestimmte, in der Meerenge von Gibraltar angesiedelte Herde von 30 Orcas Rache üben will, für Nachkommen, die von Fischern dort getötet wurden. „Andere Wissenschaftler, mit denen ich sprach, nehmen sogar an, dass es sich bei den Angriffen um eine in Mode gekommene Freizeitaktivität unter den Schwertwalen handeln könnte. Motto: Hast Du heute schon ein Segelboot geschubst?”. Weniger absurd scheint die Theorie, dass die Tiere krank oder von Parasiten befallen sind, die sie „verrückt” spielen lassen. „Letztendlich werden wir niemals genau erfahren, was die Orcas zu ihren Angriffen bewegt”, sagt Käsbohrer.

Immerhin: Wer in balearischen Gewässern segelt, braucht keine Angst vor Orca-Angriffen zu haben. Das Mittelmeer zählt für Schwertwale aufgrund der relativ geringen Tiefe nicht zu ihrem Jagdgebiet.

„Das Rätsel der Orcas”, ISBN: 978-3-96706-062-1, Preis 24,95 Euro