Vermutlich kennen Sie den Titel als Redewendung, nur andersherum. Bei meinen Recherchen nach den Wurzeln dieses Satzes bin ich auf viele Quellen gestoßen: So vermuten Geschichtsforscher, dass die Weisheit aus dem Orient stammt und auch den alten Römern schon bekannt war. Einer, der diese aufstellte, war unter anderem Mitte des 19. Jahrhunderts der Schriftsteller Gustav Freytag. In der Neuen Zürcher Zeitung habe ich den Hinweis gefunden, dass das Sprichwort aus der Feder des Heiligen Benedikt stammen könnte. Seine Klosterregeln, die vor 1500 Jahren zunächst für die Gemeinschaft von Montecassino (Mittelitalien) geschrieben wurden, ordnen das Zusammenleben der Mönche und Nonnen. Nebst rein organisatorischen Kapiteln bietet er auch Hilfestellungen für das geistliche Leben. Er legt großes Gewicht auf das Schweigen. So widmet es der Schweigsamkeit ein eigenes Kapitel. In diesem Kontext mag das Schweigen sinnvoll sein, denn es dient der Möglichkeit, in der Stille auf Gott zuzugehen beziehungsweise ihn zu suchen. Es sollte jedoch beachtet werden, dass ein so alter Text immer im Kontext seiner Entstehungszeit verstanden werden muss, das heißt viele Einzelanordnungen der Regel in unserer Zeit und Gesellschaft nicht mehr wörtlich zu nehmen sind und somit auch nicht mehr praktiziert werden oder hilfreich erscheinen.
In unserer heutigen Zeit könnte eine Bedeutung der ursprünglichen Worte sein, dass es manchmal besser ist, den Mund zu halten, als sich "um Kopf und Kragen" zu reden. Gerne geht man in bestimmten Situationen auch einer (unangenehmen) Diskussion aus dem Weg, in dem man dem Gesprächspartner diesen Satz um die Ohren haut. Vor nicht allzu langer Zeit noch wurde Frauen im Allgemeinen eine gewisse Geschwätzigkeit unterstellt, die man mit einem solchen Satz möglicherweise besser beherrschen oder zumindest abwerten konnte.
Auch heute erlebe ich in meiner Praxis noch viele Frauen (aber natürlich auch Männer), denen die Worte fehlen. Die gelernt haben, still zu sein, deren Meinung oder Fragen nicht gewünscht waren. Aus diesem, oft in der Kindheit gelernten Kommunikationsmuster, können später viele Herausforderungen entstehen. Sowohl in Beziehungen zu Liebespartnern, auch Freunden und Kollegen, als auch in der Erziehung eigener Kinder kann es dazu führen, dass die Haltung, "lieber Schweigen, als etwas Falsches zu sagen", wenig hilfreich, sondern eher anstrengend wird. Missverständnissen wird so freie Bahn geschaffen. So könnte ein Schweigen als Desinteresse oder Zustimmung gewertet werden und damit der Anfang weiterer destruktiver Kommunikation sein.
Gerade auch in der Beratung ist es dann, zusammen mit dem Klienten, meine Aufgabe, die Gründe für die Sprachlosigkeit aufzudecken und auf Aktualität zu überprüfen. Ein Kind, das am Tisch mit einer Ohrfeige rechnen kann, wenn es unaufgefordert etwas sagt, wird tunlichst ruhig sein. Übernimmt das Kind dann später eine Führungsrolle, könnte sich dieses alte, damals sehr nützliche Lösungsverhalten, dann als wenig hilfreich erweisen. Darum lautet eine der wichtigsten Fragen: Wozu ist es wichtig, sich genau so zu verhalten, wie ich es heute tue? So wird es möglich, dem Ursprung dieses Verhaltens auf die Spur zu kommen. Im nächsten Schritt überprüfen wir dann gemeinsam durch den Aktualitäts- und Realitätscheck, welchen Wert das "alte" Verhalten heute noch hat und welches neue Verhalten stattdessen angebracht wäre. Dann heißt es üben, üben, üben, denn das alte Kommunikationsmuster hat uns so lange begleitet, dass wir es nicht einfach ablegen können. Aber wir können Stück für Stück achtsamer werden und bemerken, wann es sich einschleichen will, um dann immer besser darauf zu reagieren.
Auch in Zeiten besonderer psychischer Belastungen, wie dem Umgang mit eigenen, schwersten Erkrankungen und damit verbundener Trauer ist Schweigen wenig hilfreich. Ganz gleich, ob im professionellen oder privaten Setting gilt es zu beachten, dass sich die Betroffenen im Ausnahmezustand befinden. Möglicherweise sind viele Verluste zu verkraften. Der Verlust des Arbeitsplatzes, der Freiheit, der Träume und Wünsche sowie der Aktivitäten mit Freunden und Familie. Dazu kommt unter Umständen die Belastung durch körperliche Symptome oder Therapieverfahren und Operationen. Angst, Unsicherheit, Hoffnung, Wut und Trauer liegen no beieinander und ein Wechselbad der Gefühle ist die Folge. Die Verarbeitung des (manchmal) unvermeidbaren Schicksals braucht Zeit. Es ist sehr wichtig, dass der Betroffene den Raum und die Zeit bekommt, um über all das, was ihn oder sie bewegt, reden zu können. Manchmal braucht es etwas Zeit, um das Unaussprechliche überhaupt auszudrücken zu lernen. Auch der Begleiter darf und sollte sagen, wenn er nicht weiß, was er Hilfreiches äußern kann. Das Ansprechen von Hilflosigkeit ist sicher heilsamer, als ein unangenehmes, bedrückendes Schweigen.
In langjährige Beziehungen schleicht sich manchmal auch eine gewisse Sprachlosigkeit ein. Man kennt den anderen in- und auswendig oder man denkt es zumindest. Warum sollte man also über bestimmte Dinge noch reden, wenn sie schon immer so oder so entschieden wurden? Oder man verliert das Interesse daran, Wünsche auszudrücken oder Schwierigkeiten anzusprechen, weil man davon ausgeht, dass sich eh nichts daran ändern wird. Dieses destruktive Kommunikationsverhalten kann der Anfang vom Ende sein, wenn beide Partner innerlich bereits aufgegeben haben und keine Vorstellung auf Besserung oder Veränderung mehr möglich ist. Wenn Sie Ihren Partner lieben und ihn oder sie nicht verlieren wollen, reden Sie miteinander. Trauen Sie sich anzusprechen, was und wo es klemmt. Wenn Sie es nicht mehr alleine schaffen, holen Sie sich professionelle Hilfe.
Aus meiner Erfahrung ist es oft nicht mangelnde Liebe oder Bereitschaft, eine Beziehung weiterzuführen, sondern eher die Sprach- und damit verbundene Hoffnungslosigkeit, das Sich-unverstanden-Fühlen, das eine Beziehung unerträglich macht. Bleiben Sie in Kontakt. Stellen Sie Fragen, Fragen bewirken Antworten, bewirken Gespräch und Beziehung. Es ist gut zu fragen. Fragen ist Gold. In diesem Sinne.
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