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Über den Umgang mit verpassten Gelegenheiten

Das Gute an meinen, in letzter Zeit allerdings recht häufig auftretenden Infekten ist, dass ich Zeit habe, nachzudenken. Während ich wahlweise im Bett oder auf der Couch liege und mein Körper damit beschäftigt ist, wieder gesund zu werden, kommen mir die verschiedensten Ideen. So denke ich gerade viel darüber nach, dass das Leben endlich ist. Und spätestens seit der Pandemie musste ich meine Illusionen darüber, dass bestimmte Dinge einfach nicht passieren können, endgültig verabschieden. Kaum jemand hätte geahnt, dass es möglich sein würde, Gläubige in aller Welt von ihren wichtigsten Feierlichkeiten abzuhalten, seien es die Osterprozessionen der Christen, die Wallfahrt Hadsch der Muslime oder die unzähligen großen Versammlungen der Hindus. Wer von uns hätte gedacht, es einmal zu erleben, dass in Deutschland die Schulen geschlossen werden für einen derart langen Zeitraum (74 Tage vollständig und 109 Tage teilweise, Quelle: ifo Schnelldienst 12/2021)? Man könnte also sagen, dass die Pandemie uns oder zumindest mir die Augen dafür geöffnet hat, dass der alte Spruch aus der Werbung "Nichts ist unmöglich", viel weiser, wenn auch nicht unbedingt positiver ist, als gedacht.

Mit der Erkenntnis, dass das Leben sehr schnell die Richtung wechseln kann und es keine Zeit zu verlieren gibt, hat sich meine Welt deutlich verändert. Ich habe meine Tätigkeit in zwei psychosomatischen Kliniken im Allgäu aufgegeben, meinen Hausstand aufgelöst und bin nach Mallorca gezogen. Hier arbeite ich nun online und in Präsenz mit meinen Klienten und habe das Gefühl, ziemlich alles richtig gemacht zu haben (wir sprachen darüber MM 42/2021). Ich habe geprüft, ob das Leben, das ich lebe, wirklich das Leben ist, das ich möchte. Und ich kann sagen, dass ich meinem Ideal schon sehr nahe bin.

Nun ist es nicht immer so, dass wir unser Leben so radikal verändern können. Sei es, weil unsere Jobs Umgestaltungen nicht ermöglichen oder die Familie nicht mitziehen mag oder kann. Sei es, weil wir zu alt oder zu jung sind oder schlicht nicht die finanziellen oder körperlichen Möglichkeiten haben. Dann ist es sehr ratsam, uns die Dinge vorzunehmen, auf die wir Einfluss nehmen können. Das Leben ist einfach zu kurz, um sich mit allem abzufinden. Und, wenn wir einmal davon ausgehen wollen, dass wir nur dieses eine haben, gibt es naturgemäß auch keine zweite Chance.

Auch schwerwiegende Diagnosen können unser Leben, quasi über Nacht, völlig aus der Bahn werfen. Manchmal gibt es gute Aussichten auf Heilung und wir können uns darauf konzentrieren, möglichst unbeschadet durch Therapien und Behandlungen zu kommen. Manchmal aber wissen wir schon, dass es nur darum geht, den Verlauf zu verlangsamen, die Begleiterscheinungen gering zu halten und zu lernen, mit den neuen Gegebenheiten zu leben. Das kann, vor allem, aber nicht nur in jüngeren Jahren, eine große Herausforderung sein. Ich möchte Ihnen an dieser Stelle von einem ehemaligen, sehr geschätzten Chef erzählen, der viele Jahre sehr erfolgreich als Vertriebsmanager arbeitete. Bis heute ist mir nie mehr jemand begegnet, der seine Mitarbeiter so mit Humor und Mitgefühl, aber auch Klarheit und Disziplin gefördert und gefordert hat, wie er. Umso größer war meine Überraschung, als ich erfuhr, dass er diesen Abschnitt seines Lebens hinter sich gelassen, und sich komplett neu orientiert hatte. Er begann ein Studium für Senioren und wurde Komparse und Darsteller in Werbeproduktionen, Filmen und im Fernsehen. So habe ich ihn auch wiederentdeckt und kontaktiert. Er erzählte, dass er die nächste Etappe seines Lebens der Kultur widmen wolle und alles tun würde, was dafür erforderlich sei. Dann wurde bei ihm, kaum zwei Jahre nach Beginn seiner kleinen Film-Karriere, Parkinson diagnostiziert und dieser Traum war zu Ende. Wir haben nicht darüber gesprochen, wie groß der Schock war und wie lange er dafür brauchte, mit dem Wissen, dass er eine (Stand heute) nicht heilbare Erkrankung hat, zurecht zu kommen, aber er wäre nicht er gewesen, wenn er nicht etwas für sich (und andere, wie sich herausstellte) Positives daraus gemacht hätte.

So begann er, auf seinem Blog "Parkinson Journal" (https://parkinson-journal.de/) Informationen zusammenzutragen für Betroffene und deren Angehörige. Die Beiträge produziert er entweder selbst oder sind von ihm kommentierte, zitierte, kuratierte, übersetzte, manchmal synchronisierte Versionen aus bereits publizierten Beiträgen. Hier findet man unter anderem auch Artikel darüber, dass Tischtennis spielen eine große Bedeutung und Unterstützung für Betroffene sein kann, um Beweglichkeit und Reaktionsfähigkeit zu fördern und zu erhalten. Ich freue mich sehr mit ihm, dass er bei den PingPongParkinson German Open 2023 die Goldmedaille im Herren Doppel gewonnen hat.

In meinen Beratungen stelle ich manchmal die Frage, was würden Sie tun, wenn Sie nur noch drei Monate zu leben hätten? Wie würde diese Erkenntnis Einfluss nehmen auf Ihren Alltag, Ihrem Umgang mit Ihren Lieben, mit sich selbst? Hätten die Probleme, mit denen Sie sich gerade auseinandersetzen müssen, dasselbe Gewicht? Und wie oft müssten Sie rückblickend sagen: Hätte ich das nur vorher gewusst! Ist es nicht schade, dass wir oft erst im Angesicht einer schweren Erkrankung oder anderer einschneidender Erlebnisse beginnen, unser Leben zu hinterfragen und gut oder zumindest besser für uns zu sorgen?

Vielleicht ist es an der Zeit, das Leben, die Liebe, Familie und Freunde mehr zu feiern, vielleicht sollten wir öfter an den Strand fahren, an den Weiher oder den Baggersee und den Sommer genießen. Erlauben Sie sich, wieder mehr Spaß zu haben und zu lachen, bis der Bauch schmerzt. Vielleicht ist das fast unmögliche Projekt, das uns schon so lange im Kopf herumschwirrt, obwohl es unüberlegt, zu schwer oder einfach unlogisch ist, jetzt doch reif, umgesetzt zu werden. Trauen Sie sich! Wir haben nur dieses eine Leben und es ist verdammt kurz. Tun Sie mehr von dem, was Ihnen Freude macht, Ihnen am Herzen liegt, Sie zum Strahlen bringt! Auch wenn es etwas naiv, verrückt oder ungewöhnlich zu sein scheint. Und tun Sie es jetzt! In diesem Sinne.