Während ich die heutige Kolumne schreibe, schaue ich aufs Wasser. Das ist nichts Neues und das kennen Sie schon von mir. Heute aber ist es der Bodensee und ich genieße den Blick auf die Schweizer Berge. Dabei ist es mir recht frisch. Sicher, auch hier ist Sommer und es wird am Tag sehr warm, sogar sommerlich heiß. Aber der Morgen und der Abend lassen mich ein wenig frösteln. Es ist einfach nicht so wie zuhause. Dabei freue ich mich wirklich, hier zu sein. Meine Freundinnen zu sehen, mich auf einfachste Weise verständlich machen zu können, ohne nach Worten suchen oder Umschreibungen finden zu müssen. Ich kenne mich hier aus, weiß, wo alles ist. Kenne die Regeln und die Möglichkeiten, diese (bei Bedarf) etwas zu umgehen. Ich weiß genau, wo ich parken kann, auch wenn es nur halblegal ist. Vieles ist mir sehr vertraut, obwohl es schon die eine oder andere Veränderung gibt. Hier ein neues Bürohaus, da ein weiteres Geschäft. Es gibt eine neue Uferpromenade und ein cooles Café. Aber der Espresso macchiato und das Aprikosenhörnchen bei Franco in der Eisdiele sind noch immer ein Gedicht.
Ich sitze hier und denke darüber nach, was Heimat bedeutet? Ist es zwangsläufig der Ort, an dem man geboren und aufgewachsen ist? Oder ist es die Region, in der man die meiste Zeit seines Lebens verbracht hat? Oder ist es vielleicht eher die Gegend, in der man sich glücklich fühlt, zuhause, angekommen? Wenn ich hier am See bin, an dem ich immerhin 17 Jahre lang gelebt habe, fragen mich die Leute, ob ich das alles nicht vermisse, ob ich jetzt wirklich weg bin oder wann ich zurückkomme. Und ich antworte immer, dass es sehr schön hier war und ich glücklich in meinem Häuschen und dem Garten (MM 51/2021). Aber, dass ich mich jetzt schon wahnsinnig auf den Moment freue, wenn im Landeanflug unter mir wieder die Küste Mallorcas auftaucht. Mein Herz wird beginnen, ein paar Takte schneller zu schlagen und ich werde es kaum noch erwarten können, wieder zuhause zu sein. Wenn ich darüber sinniere, was es ausmacht, wie es dazu kommt, dass ich mich so fühle, fällt mir dazu einiges ein. Da ist ein Gefühl, tief in meinem Herzen. Da sind die Farben, das Licht, die Wärme der Sonne und vor allem die Menschen. Mallorca ist ein Schmelztiegel. Zugereiste aller Herren Länder leben hier und scheinen sich größtenteils auch gut zu vertragen. Ich fühle hier eine gewisse Freiheit, die ich gar nicht näher erklären kann. Vieles kann, nichts muss, wäre vielleicht eine halbwegs gute Beschreibung.
Die meisten Menschen wirken gelassener, was bei den Temperaturen auch sehr gesund ist. Sicher, man regt sich auf, gestikuliert und diskutiert, aber es scheint trotzdem irgendwie alles ein wenig friedlicher zu sein. Ich liebe meinen Postboten, der sich die Zeit nimmt, mit mir fünf Minuten lang die Optionen zu besprechen, wann er wiederkommen kann, damit ich den Betrag für die Nachnahme in bar parat habe und nicht extra in die Correo-Filiale fahren muss. Ich liebe es, wenn die Kassiererin mir die gewünschte Anzahl von Tüten nicht nur bereitstellt, sondern sogar so weit öffnet, dass ich gleich loslegen kann. Wenn etwas Zeit ist, beginnt sie sogar damit, für mich einzupacken. Meine Leidenschaft für Kreisverkehre habe ich ja schon ausreichend beschrieben (MM 6/2022). Ich liebe den Anblick der Kathedrale zu jeder Tages- und Nachtzeit. Wie sie über dem Meer thront und sich ihr Bild im Wasser des extra dafür angelegten Sees spiegelt.
Ich muss allerdings bei all der Schwärmerei zugeben, dass ich schon manchmal spüre, dass meine neuen Wurzeln noch ganz fein sind und erst allmählich kräftiger werden. Das ist ein seltsames Gefühl, am alten Ort nicht mehr "in der Erde" und am neuen Platz noch nicht richtig verwurzelt zu sein. Es hilft mir, früh am Morgen mit dem ersten Cortado auf meiner Dachterrasse zu sitzen, die dann angenehmen Sonnenstrahlen zu genießen und der Stille zu lauschen. Oder am Abend noch eine kleine Runde durch meinen Hafen zu drehen (MM 13/2022). Ja, das Heimatgefühl ist da und es zeigt mir, dass ich hier richtig bin. Auch, wenn ich noch dabei bin, Spanisch zu lernen und weit davon entfernt zu verstehen, warum man das Auto bei jeder Gelegenheit mit laufendem Motor stehen lässt oder in der Weihnachtszeit ganze Kühltheken voller kleiner, toter Schweinebabys präsentiert werden. Ich habe auch in Deutschland vieles eher hingenommen, als verstanden. Warum sollte es hier also anders sein?
Wenn Sie sich fragen, ob Sie hier Heimat finden werden, kann ich Ihnen nur raten, nehmen Sie sich Zeit, lassen Sie alles auf sich wirken. Erlauben Sie sich kritisch zu sein, aber versuchen Sie zu akzeptieren, dass Sie nicht mehr in Deutschland sind. Lernen Sie so schnell wie möglich die liebenswerte Sprache Spanisch, die für etwas unangenehme Bezeichnungen oft gleich eine Verniedlichung mitbringt, so wird aus "the fat = der dicke Mann" gleichmal "mollig = das Pummelchen". Und am besten auch noch Katalanisch. Schließlich ist das die offizielle Amtssprache auf den Balearen. Ich erlebe es häufig, dass Zugewanderte alles, was sie in Deutschland getan, gedacht und gegessen haben, einfach nach Mallorca adaptieren und so eine Art Parallelwelt aufbauen, in der sie zwar vielleicht ganz glücklich, aber doch isoliert leben. Mallorca ist so viel mehr als Sonne, Strand und Meer. Es kann ernüchternd sein zu erfahren, dass das Leben sich eben nicht so einfach übertragen lässt und, dass die Idee, hier weiterzuleben wie in Deutschland, nur mit besserem Wetter, eine Illusion ist. Und sollten Sie das Glück haben, in Ihrem Domizil über eine Heizung zu verfügen, wird es Ihnen sicher besser gehen, als George Sand und Frédéric Chopin, die den Winter auf Mallorca damals als weniger angenehm, um nicht zu sagen grauenvoll empfunden haben. Vielleicht war das Wetter immerhin die Inspiration für das wunderschöne Regentropfen-Prélude, das Chopin auf Mallorca komponierte. Ich rate Ihnen, tauchen Sie ganz ein in diese Welt, mit all ihren (vielleicht manchmal noch) fremden und vielleicht ungewohnten Geräuschen, Gerüchen und Gepflogenheiten, suchen Sie die Nähe zu den Menschen, die hier bereits verwurzelt sind und lassen Sie zu, dass Ihnen (neue) Wurzeln wachsen. Ich bin sicher, dass es sich lohnen wird.
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