Als ich vor vielen Jahren das erste Mal von Tinder hörte, war ich so interessiert wie abgeschreckt. Einen Menschen ausschließlich nach seinem Aussehen beurteilen? Unerkannt nach links oder rechts wischen ohne jegliche Konsequenz? Ganz lässig entscheiden über den möglicherweise nächsten Schritt auf dem Weg zu einer ... ja, was eigentlich? Liebesbeziehung, Affäre, Bettgeschichte oder auch Freundschaft mit Extras?
Mir erschien diese Möglichkeit, jemanden kennenzulernen, irgendwie falsch. Ich möchte die Stimme eines Menschen hören. Sehen, wie er sich bewegt. Sehen, wie er lacht und vor allem erfahren worüber. Dennoch gibt es im Leben einer Frau Phasen (für Männer gilt natürlich dasselbe), in denen schlichtweg Zeit und Energie fehlen, um die Orte aufzusuchen, an denen man gemeinhin potentielle neue Verehrer finden kann. Und da ich, frisch getrennt, das Gefühl hatte, es wäre jetzt gut, etwas für mein Selbstbewusstsein zu tun, ließ ich mich darauf ein. Warum nicht mal die neuen Errungenschaften der Technik nutzen und online Daten.
Die ersten Eindrücke waren sehr ernüchternd. Was ist eigentlich das Gegenteil von Schokoladenseite? Die Fotos vieler Männer waren nicht sehr vorteilhaft, die Texte dazu entsprechend. So hatte ich gefühlt schon dünne Haut am Zeigefinger, bevor ich das erste Mal gewillt war, nach rechts zu wischen. Und dann passierte es auch gleich: It’s a MATCH! Das war wirklich aufregend. Da gab es also irgendwo einen Mann, der mich auch ansprechend fand, beziehungsweise meine Bilder, mehr wusste er ja noch nicht von mir. Ich war ein bisschen ratlos, was als nächstes von mir erwartet wurde. Sollte ich, ganz Dame warten, bis der Herr sich meldet, oder sollte ich, ganz ich selbst, gleich mal ein freundliches „Hallo, freut mich!“ durch das Internet schicken? Das Problem wurde gelöst durch ein zaghaftes „Hi“ des interessierten Mannes. So schrieben wir also ein paar Mal hin und her, um dann festzustellen, dass wir doch eindeutig zu weit auseinander wohnten, um eine ernsthafte Beziehung zu beginnen. Kurzes, freundliches Geschreibsel, das sehr schnell sein Ende fand. Gut, also weiter. Es gab im Laufe der Zeit weitere kurze, aber auch längere Geplänkel, manche führten gar zu einem Telefonat.
Viele ernsthaftere Kontakte gab es nicht, aber ich beobachtete ein interessantes Phänomen. Scheinbar gehört es zum guten Ton anzumerken, dass es selbstverständlich nicht um sogenannte ONS (für den unerfahrenen Leser: One-Night-Stand) geht, was im Übrigen in vielen Fällen schlichtweg gelogen ist. Und dann gibt es da noch diese Aussage, dass man sich aktuell nicht fest binden möchte, dass man auf der Suche sei nach „Freundschaft mit Extras“ oder auch Neudeutsch „Friends with Benefits“. Was soll das eigentlich genau heißen? Man möchte eine sexuelle Beziehung, keinen ONS, sondern einen MNS (Many-Nights-Stand), aber keine Verpflichtung, keine Bindung, keine Erwartungen oder Ansprüche erfüllen müssen? Großartig. Man sucht also einen Menschen, der alles leisten, aber so gut wie nichts fordern darf.
Wenn nun zwei erwachsene Singles genau das suchen und miteinander finden, ist das prima. Leider weiß ich aus gewöhnlich gut unterrichteten Kreisen, dass dies leider sehr häufig nur einseitig die Wünsche der Suchenden erfüllt. Und dann sind Beziehungsprobleme, die es per Definition ja gar nicht geben dürfte, vorprogrammiert. Es entsteht ein Hin und Her, raus aus den Kartoffeln, rein in die Kartoffeln, und am Ende bleiben zwei frustrierte Menschen übrig, die beide nicht das bekommen haben, was sie eigentlich wollten.
Was aber ist das für ein Phänomen? Warum gibt es immer mehr Menschen, die eine Beziehung vermeiden, die keinen Bezug wollen zu einem anderen Menschen? Auch wenn es etwas klischeehaft wirkt, sind es auch heute noch eher Männer, die zu „Freundschaft mit Extras“ tendieren. Als Therapeutin fällt mir dazu einiges ein: Bindungsängste aufgrund Kindheitserfahrungen mit dominanter Mutter, schwere Beziehungsverletzungen oder Kränkungen durch frühere Partnerinnen, Angst davor, nicht mehr selbstbestimmt leben zu können, um nur einige Beispiele zu nennen.
Aus der Bindungstheorie von John Bowlby wissen wir, dass jeder Mensch nach einer emotionalen Bindung strebt. Er stellte fest, dass unser Bedürfnis danach, unser Leben mit einem anderen Menschen zu teilen, bereits in unseren Genen verankert ist. So sei der lebenslange Wunsch nach engen emotionalen Bindungen etwas ganz Natürliches. Es könnte also – theoretisch – alles ganz einfach sein. Wären da nicht die unterschiedlichen Bindungstypen: der sichere, der ängstliche und der vermeidende Beziehungstyp. Ohne hier weiter auf diese Typen eingehen zu können, liegt die Vermutung nahe, dass sich auf diversen Datingplattformen häufig Exemplare der letztgenannten Art tummeln. Um sich selbst und dem potenziellen Partner viel Zeit und eventuell Kummer zu ersparen, sollten wir vielleicht neben Alter und der Entfernung noch die Information hinzufügen, mit welchem Bindungstyp wir es hier zu tun haben. Nur um ganz sicher zu sein.
Spaß beiseite. Die gute Nachricht ist, dass wir unser Bindungsverhalten nur gelernt haben. Das heißt, nicht unser Schicksal bestimmt, wie wir in Beziehungen gehen, sondern wir sind in der Lage, unser Verhalten wahrzunehmen und anzupassen, wenn wir das wollen. Dazu ist es hilfreich, uns besser kennenzulernen und zu verstehen, was in der Vergangenheit unsere Motivation war, uns so zu verhalten und zu entwickeln. Mit guter Begleitung und etwas Geduld ist es also möglich, selbst genau der bindungsfähige, liebevolle Partner zu werden, den man sich wünscht.
(aus MM 33/2021)
Kein Kommentar
Um einen Kommentar schreiben zu können, müssen Sie sich registrieren lassenund eingeloggt sein.
Noch kein Kommentar vorhanden.