, 18. August – Das Laufen an den Krücken strengt
ihn an, doch in seinem Kopf ist die Erinnerung gestochen scharf.
Vor allem, wenn Pere Calafat Adrover von früher, vom Bürgerkrieg,
erzählt. Den hat er hautnah miterlebt hat, wenn auch nur als
kleiner Junge.
Denn Pere Calafat wohnte genau dort, wo Geschichte geschrieben
wurde: Der Arbeitsplatz seines Großvaters, das Herrenhaus und
landwirtschaftliche Anwesen von Sa Coma unweit des beliebten
Tourismusstrandes, war 20 Tage lang Hauptquartier der
republikanischen Armee, die Mallorca im Sommer 1936 von den
Franquisten zurückerobern wollte (siehe auch MM
32/2011).
Es war am frühen Morgen des 16. August, als die ersten Granaten
in und um das Steinhaus einschlugen. Über Nacht waren die
Kriegsschiffe in die Bucht eingefahren und hatten das Feuer
eröffnet.
„Alle in den Keller”, rief der Großvater die aus dem Schlaf
gerissenen Bewohner zusammen. Miguel Adrover war der Verwalter des
Landgutes. Neben seiner Familie – Frau, Tochter, Sohn,
Schwiegertochter, vier Enkel – lebten dort auch Knechte und Mägde
mit ihren Angehörigen, knapp 30 Menschen.
Der Einstieg zum Keller befand sich im Hof. Das in den Sandstein
getriebene Verlies diente dazu, die geschorene Schafswolle feucht
zu halten. Bis zu 15 Meter geht es in die Tiefe. „Die Vibrationen
der Bomben ließen alles erbeben. Dabei rutschten die brennenden
Dochte der Öllämpchen in die Flüssigkeit, die Flammen erloschen,
wir saßen im Dunkeln”, schildert Pere Calafat die Situation.
Eine unbeschreibliche Angst hatte die Gruppe erfasst. Man
rechnete mit dem Schlimmsten. Dann polterte es an der Kellertüre.
„Rauskommen, wer dort unten ist”, wurde befohlen. „Nicht schießen,
hier sind Frauen und Kinder”, rief der Großvater ins Licht. „Dann
sollen die Kinder zuerst raus!”, schallte es zurück.
Gemeinsam mit ihren Müttern erklommen die Kinder, zwischen zwei
und sechs Jahren alt, die Stufen. Oben standen zwei Milizionäre,
das Gewehr im Anschlag, weitere Soldaten warteten im Hof auf.
Dann erschienen auch die Männer aus dem Keller, die Arme in die
Höhe gestreckt. Es kam zu folgendem Dialog: „Wer ist der Eigentümer
hier?”, fragte einer der Milizionäre.
– „Der ist nicht hier.” – „Wo ist er denn?” – „Er ist in Palma.”
– „Da hat er aber Glück gehabt – vorerst. Und wer seid Ihr?
– „Wird sind die, die hier das Land bearbeiten.” – „Dann wird das
Land von heute an Euch gehören”, erhielten der Verwalter und seine
Leute zur Antwort.
Die anarchistische Revolution von Katalonien hatte somit auch
Mallorca erreicht. In Nordost-Spanien hatten die neuen Machthaber
bei Ausbruch des Bürgerkrieges die Ländereien der Reichen
beschlagnahmt und enteignet, ganz nach dem sozialistischen
Grundsatz – die Agrarflächen gehören demjenigen, der sie
beackert.
Tatsächlich wurden Großvater Miguel Adrover und seine Familie
von den gelandeten Truppen nicht drangsaliert. „Sie haben uns nie
schlecht behandelt”, sagt sein Enkel 75 Jahre später.
Die Familie lebte weiterhin in dem Haus, musste aber den
Eroberern in jeder Hinsicht dienlich sein. Die Granate, die in der
Hauswand explodiert war, hatte in dem dahinter liegenden Zimmer des
Großvaters die Schubladenkommode mit der schweren Marmorplatte in
Stücke zerschlagen.
Dort war auch das Geld versteckt gewesen, mit dem er die
Arbeiter bezahlen wollte. Zwischen den Trümmern waren die Scheine
und Münzen nicht mehr zu finden. Die vielen Personen, die das Haus
zuvor durchsucht hatten, waren offenbar fündig geworden.
Ihre Ablehnung der katholischen Kirche und ihrer Symbole hatte
die Truppe, die teils aus anarchistischen Milizionären bestand,
ebenfalls gezeigt: Ein Bildnis des Herz Jesu war von ihnen wütend
zerstört worden.
„Sehr bald”, erinnert sich Enkel Pere Calafat, wurden die ersten
Verwundeten hereingetragen. Denn landeinwärts wurde gekämpft, waren
Schüsse zu hören. „Die Verwundeten machten mir mit ihren blutigen
Verbänden große Angst, ich hatte so etwas noch nie gesehen.”
Das Lazarett wuchs. Die Wände der Eingangshalle und die eines
Nebengebäudes wurden mit Etagenbetten belegt. „Verwundete, die
sahen, dass ich mich ängstigte, winkten mich heran und schenkten
mir Süßigkeiten.”
Das Expeditionsheer verzehrte nach und nach die rund 200 Schafe,
die auf der Finca gehalten wurden. Dann wollten sie auch die 13
Rinder schlachten. Das musste Großvater Miguel verhindern. Es kam
fast zu einem Handgemenge. „Wie wollt ihr eure Verwundeten mit
Milch versorgen, wenn Ihr die Kühe schlachtet?”, rief er. „Er hat
recht”, befand ein Offizier. Die Kühe blieben am Leben.
Eines Abends, als Miguel Adrover die Tiere fütterte, entdeckte
er im Stall fünf gegnerische Kämpfer der Falange, die sich dort
verborgen hatten. In einem von ihnen erkannte er einen Mann aus dem
nahen Son Servera. „Was macht Ihr hier”, raunte er erschrocken,
„sie werden Euch töten, wenn sie Euch finden.”
Tatsächlich hatten sich die Männer hinter der feindlichen Linie
zwei Tage in einem Kiefernwald versteckt gehalten, ohne Wasser und
Nahrung. Miguel Adrover besorgte ihnen Lebensmittel, verbarg sie,
bis sich ein günstiger Moment bot, und verhalf ihnen zur Flucht.
Wäre diese Aktion entdeckt worden, es wäre wohl sein Tod
gewesen.
Die Tage vergingen. Bei Beschuss suchte die Familie Sicherheit
im Wollekeller. Die Kinder durften nicht von ihren Müttern weichen,
noch, wie sonst, in der Gegend spielen. Dennoch sah Pere Calafat
die Schiffe in der Bucht, das Kommen und Gehen der Militärs. Die
Flugzeuge, die durch die Lüfte rauschten und schossen, sie
begeisterten den Jungen. Der Kommandant der Republikaner, Alberto
Bayo, war ihm hingegen kein Begriff.
Aus späteren Erzählungen weiß er jedoch, dass sein Großvater ein
paar Mal bei Bayo vorzusprechen hatte. Der Kommandant schlief nicht
im Haus. Er hielt sich in einer vorgelagerten Windmühle auf, die
ebenfalls zum Anwesen gehörte. An ihrer Stelle steht heute eine
Urbanisation.
Von Erschießungen hat Pere Calafat nichts mitbekommen, weder
nach der Landung der Republikaner noch nachdem die Franquisten nach
20 Tagen Krieg in Sa Coma einrückten. „Möglich, dass man uns Kinder
irgendwie ablenkte.” Als Madrid nicht mehr auf den Erfolg der
Militäraktion vertraute, wurden Bayos Truppen über Nacht
zurückbeordert.
Großvater Adrover erfuhr zufällig davon, und bereitete alles
vor, damit seine Familie und er nicht zwangsweise mitgenommen
wurden. In der Nacht, in der mehrere Tausend Soldaten Hals über
Kopf die Schiffe be-stiegen, versteckte er seine Enkel und Kinder
in einem Holzverschlag unter einem Haufen geernteter Bohnen. Er
selbst verbarg sich im Dachgebälk der Finca.
Als später die nationalen Inselverteidiger Sa Coma erreichten,
wurde Miguel Adrover zunächst der Kollaboration mit dem Feind
verdächtigt. Er musste lange Verhöre über sich ergehen lassen. Am
Ende ließ man ihn unbehelligt. „Ich glaube, das lag daran, dass er
den fünf Falangisten geholfen hatte.”
Wie denkt Pere Calafat heute über jene Jahre? Der Krieg im
Inselosten sei nur von kurzer Dauer gewesen, sagt er. An den
anderen Fronten in Spanien seien viel blutigere Schlachten
geschlagen worden. „Im Grunde hatten wir Glück.”
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