Fassungslos betrachten wir die Bilder, die aus Haiti in unsere
Wohnzimmer flimmern. Das ganze Ausmaß des Elends, der Schmerzen,
der Trauer, der Zerstörung und der Aggression, die die Menschen in
diesem ohnehin ärmsten amerikanischen Land seit dem Beben
durchleben, ist trotz der Liveberichte und Reportagen aus dem
Katastrophengebiet wohl kaum zu begreifen. Erinnerungen werden wach
an den Tsunami, der im Dezember 2004 eine ähnlich hohe Zahl an
Todesopfern gefordert hatte. Damals waren wir vielleicht emotional
noch stärker berührt, weil die betroffenen Gebiete uns durch den
Tourismus vertrauter sind, und weil fast jeder jemanden kannte, der
bei der Naturkatastrophe verletzt, vermisst oder getötet worden
war.
Die Welle der Hilfsbereitschaft, die in der vergangenen Woche
durch die Welt gegangen ist, wird von manchen Analysten als
positiver Aspekt der Globalisierung gepriesen: Die Staaten und
Kontinente rücken nicht nur im wirtschaftlichen Bereich zusammen,
das Leben im globalisierten Dorf fördere auch die Bereitschaft und
die Möglichkeiten der internationalen Solidarität. Die
Offensichtlichkeit des Ausmaßes des Unglücks und die Armut des
Landes haben dazu wohl beigetragen, aber auch Spendenaufrufe über
neue Technologien und Medien, wie Twitter und soziale
Netzwerke.
Auch wenn in den vergangenen Tagen angesichts der chaotischen
Lage eine Verteilung der Hilfsgüter nicht oder nur sehr schleppend
funktionierte, haben die Hilfsorganisationen zum Glück kein
Nachlassen des Interesses am Schicksal der neun Millionen Haitianer
festgestellt. Steht die Weltgemeinschaft nun nicht noch enger
zusammen, wird wahrscheinlich ein großer Teil von ihnen an Hunger
und Krankheit zugrunde gehen – 80 Prozent der Bevölkerung lebte ja
schon vor dem Erdbeben im Elend der Slums.
Beobachter vor Ort fordern einen Marshall-Plan, ähnlich dem
Engagement der Siegerstaaten in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg.
Auch die Haitianer sagen, dass sie aus eigener Kraft keine Chance
für eine lebenswerte, menschenwürdige Zukunft haben. Das globale
Dorf muss einspringen.
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