Miquel Riera zeigt genervt mit dem ausgestreckten Arm auf
mehrere bunte Punkte, die an Seilen und einer Strickleiter in der
Steilküste hängen. „Wenn die nicht klettern können, sollen sie
gefälligst woanders spielen.” Miquels „Spielplatz” ist heute die
„Cueva del Diablo”, eine gut 20 Meter hohe, zum Meer abfallende
Steilwand bei Porto Cristo, die vor Überhängen nur so wimmelt. Ein
sogenannter Spot von vielen auf der Insel. Dem Laien ist schon fast
unbegreiflich, wie man dort mit Seil klettern kann, geschweige denn
ohne. Selbst die Ziegen werden neidisch, wenn sie das 165 kleine
Kraftpaket aus sicherer Distanz respektvoll beobachten. Dort, wo
sich Miguel entlanghangelt, gibt es nur ihn, den Überhang und das
Meer.
Das sei nun einmal der Kick beim Psicobloc, erklärt der
43-jährige Extremkletterer. Sich in der Wand so locker zu bewegen,
das man jegliche Angst vor dem Fallen vergisst. Dann stelle sich
ein unbeschreibbares Gefühl von grenzenloser Freiheit ein.
Auch wenn wahrscheinlich schon vor tausend Jahren in den Felsen
Mallorcas geklettert wurde, gilt Miquel Riera als Erfinder des
Psicobloc. Schon vor 28 Jahren kletterte er ohne jegliche
Sicherheitsausrüstungen und barfuß an den steilen Wänden zwischen
Palmas Hafen und Königspalast. „Mit den früher üblichen schweren
Stiefeln wären wir wahrscheinlich ertrunken.” Schon damals schoß
ihm das Adrenalin ins Blut. Und daran hat sich bis heute nichts
geändert. „Aber früher hat man uns nur belächelt.”
Inzwischen ziehen die beiden mallorquinischen Wörter Psico
(Psyche) und Bloc (Felsblock) weite Kreise. Die besten
High-End-Kletterer aus der ganzen Welt kommen auf die Insel und
wollen nur das eine: Sich von Miquel die besten Spots zeigen lassen
– und ihre persönlichen Grenzen suchen. Psicoblocken könne man zwar
überall, wo es Überhänge und Wasser für einen halbwegs glimpflichen
Sturz gebe. Aber Mallorca sei nun einmal die Wiege dieses Sports.
„Das ist das Psicobloc-Mekka. So wie Hawaii für die Surfer.”
Miquel hat seine Grenzen schon oft erreicht, sie überschritten
und sich wieder neue gesetzt. Und wer ihn sieht, wie er unabhängig
von Nationalfeiertagen „Flagge” zeigt, weiß, dass diese verdammt
weit oben angesiedelt sind. Wie an einem Zirkus-Masten hängt er in
der senkrechten Wand, streckt beide Arme durch und sein
durchtrainierter Körper mit dem Waschbrettbauch steht entgegen
aller physikalischen Gesetze im 90-Grad-Winkel ab. 20 Meter tiefer
schlagen die Wellen an den Fels. Urlauber in einem Gummibadeboot
klatschen ungläubig Beifall. „Kleine Showeinlage als
Aufwärmtraining.”
Auch Toni Lamprecht (35) ist zum Psicoblocken nach Mallorca
gekommen. Mehrmals war er schon auf der Insel. Zuletzt im Frühjahr.
Er hat noch eine persönliche Rechnung mit einer besonders schweren
Route in der Wand offen. „Damals bin ich nur baden gegangen”,
gesteht der mit 1'88 Metern für einen Kletterer ungewöhnlich große
Bayer, der zu dem auserlesenen Kreis der besten Climber der Welt
zählt. Er hat sich bereits mit zwei „leichten” Routen, die
unbedarften Zuschauern schon die Haare zu Berge stehen lassen, warm
geklettert und will den Tag mit einem Limit krönen.
Nach dem ersten Platscher krallt sich der 88-Kilo-Mann erneut in
den Fels. Meter für Meter zieht er sich hoch. Kurz vor dem
rettenden Hochplateu das finale Problem, an dem er schon mehrmals
gescheitert war. Ein gewaltiger Überhang, der weitgehend ohne
Fußunterstützung genommen werden muss.
„You can do it” feuern ihn Kletterkameraden vom sicheren Plateau
aus an. Seine enorme Spannweite kommt Toni an der kniffligsten
Passage zugute. Mit den Fingerkuppen klebt er am Stein wie ein
Gecko. Ein die Anfeuernden übertönender Schrei, und der bärenstarke
Kerl hat sich mit einem gewaltigen Kraftakt nach oben gezogen.
Zeige- und Mittelfinger zum Victoryzeichen gespreizt, reckt er die
vom Magnesium weiß gefärbten Hände in den blauen Himmel und strahlt
über das ganze Gesicht. Heute, so scheint es, ist Weihnachten und
Geburtstag zugleich.
Psicobloc – auch „Deep Water Soloing” genannt – ist nichts für
Anfänger. „Für manche Griffe brauchst du zehn Jahre”, weiß Toni aus
eigener Erfahrung. Und gefährlich ist es auch. Vor drei Jahren
stürzte hier im Fels ein erfahrener Engländer ab und ertrank.
Benno Wagner (20) kletter seit seinem 14. Lebensjahr. Zum ersten
Mal aber Psicobloc. „Beim Einstieg in diese Wand hast du verdammt
Schiss. Und obwohl du genau weißt, dass dich ein Seil nur
behindert, hättest du manchmal schon gerne eins.”
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