Europa ist schwanger und steht vor einer schweren Geburt. In
ziemlich genau einem Jahr, am 1. Mai 2004, wird die EU um zehn
Länder aufgestockt. Was längst abgemachte Sache war,
unterzeichneten die 25 Staats– und Regierungschefs jüngst auf einem
Treffen des Europäischen Rats in Athen.
Doch längst nicht alle sind über den Nachwuchs erfreut.
Balearen-Präsident Francesc Antich reiste vor wenigen Tagen zu
Gesprächen mit dem EU-Kommissar für Regionalpolitik, Michel
Barnier, nach Brüssel. Im Gepäck hatte der Oberbaleare so manche
Sorge. Er fürchtet, dass die Inselgruppe in einer erweiterten EU
vollständig an Gewicht verliert.
Die besorgten Töne aus Palma sind keineswegs neu. Unabhängig von
der politischen Couleur feilschten die Regionalregierungen seit
jeher um mehr Mittel und Wertschätzung aus Madrid. Ihr Argument:
Das Inseldasein bringe wirtschaftliche, soziale und territoriale
Probleme mit sich.
Zwölf der derzeit 15 Mitgliedsstaaten besitzen solche
Inselregionen. Mit 13'5 Millionen Einwohnern stellen sie knapp vier
Prozent der EU-Bevölkerung. Eine von der EU in Auftrag gegebene
Studie (Eurisles) brachte Licht in die Problematik. So liegt das
Bruttoinlandsprodukt BIP pro Kopf in 93 Prozent der Inselregionen
unter dem EU-Durchschnitt. Freilich, die Balearen gehören zu jenen
sieben Prozent, die überdurchschnittlich gut abschneiden.
Klagen gibt es dennoch zuhauf. „Die Balearen haben die höchsten
Flug– und Fährpreise in Europa”, kommt Joan Mesquida, balearischer
Finanzminister, auf das Thema Transport zu sprechen. Das treffe
nicht nur den Personen–, sondern auch den Warenverkehr. Während für
Residenten ein Nachlass von 33 Prozent (für Flüge aufs spanische
Festland sowie Ibiza und Menorca) eingeführt wurde, fühlen sich
Firmen weiterhin benachteiligt.
Einer Studie der balearischen Handelskammer zufolge führt die
Insellage in dreierlei Hinsicht zu Wettbewerbsnachteilen: hohe
Transport– und folglich entsprechende Herstellungskosten sowie die
Notwendigkeit, außergewöhnlich hohe Lagerkapazitäten zu schaffen.
Kunden lassen schlechtes Wetter oder Streik nicht als
Entschuldigung gelten.
Mit der Einführung des Régimen Especial Balear (REB) vor fünf
Jahren sollte sich vieles ändern. Die Zentralregierung schuf damit
den Rahmen für einen finanziellen Ausgleich der durch die Insellage
benachteiligten Sektoren. Die Frachtkosten werden seitdem mit bis
zu 35 Prozent subventioniert. 2000 stellte die Zentralregierung
hierfür rund 2'7 Millionen Euro zur Verfügung. Handelskammer und
Unternehmer beklagen jedoch den umständlichen Papieraufwand, viele
verzichten ganz auf das Procedere.
Überhaupt ist das Thema REB ein politischer Dauerläufer. Zwar
wurde das Gesetz von der konservativen PP-Regierung ins Leben
gerufen. Tatsächlich leidet es aber seit der Verabschiedung 1998
unter Blutarmut. Den auf den Balearen seit 1999 regierenden
Fortschrittspakt lässt Madrid immer wieder auflaufen.
Beispielsweise versucht Palma seit langem, die Flüge innerhalb des
Archipels und zum Festland zum „Öffentlichen Interesse” (Servicio
Público) erklären zu lassen. Das hieße kontrollierte Verbindungen
und Tarife.
Laut Spaniens Verkehrsminister Francisco Álvarez-Casco soll es
in den nächsten zwei Monaten soweit sein. Eine Anhebung des
Residentenrabattes von 33 auf 50 Prozent, wie es die
Balearen-Regierung fordert, lehnt Madrid aber weiterhin ab.
Grundgedanke des REB war auch, Kommissionen aus Vertretern der
Zentral– und Balearen-Regierung zu bilden. Was aus solchen
hervorgehen kann, zeigt der Gesundheitsbereich. Anfang 2002 gingen
die bis dahin landesweiten Kompetenzen auf die Balearen über – und
mit ihnen ein Budget von 613 Millionen Euro.
Derartige Kommissionen, wünscht sich Minister Mesquida, sollten
auch für andere Bereiche, etwa Energie und Technologie, gegründet
werden. Bisher sei allerdings nicht viel passiert, kritisiert er.
„90 Prozent der Ankündigungen sind bislang nicht umgesetzt worden.”
Wobei die Balearen vor allem in der Energiefrage benachteiligt
sind.
Seit Beginn des Jahres können die Spanier ihren Energieversorger
frei wählen. Auf den Balearen aber kommt der Strom zwangsläufig
weiter von GESA Endesa. Konkurrenz ist am Markt auf den Inseln
nicht sonderlich interessiert, weiß Mesquida. „Die Investitionen
für eine vergleichbar geringe Bevölkerung sind zu hoch.” Nach der
Eurisles-Studie liegen die Kosten für Energieerzeugung auf dem
Archipel um 40 Prozent über denen auf dem Festland. Und die
Nachfrage steigt.
Während in den vergangenen fünf Jahren die Nachfrage nach Strom
landesweit um 24 Prozent stieg, verzeichneten die Inseln mit 46
Prozent nahezu eine doppelte Zuwachsrate. Ins Bild passt, dass sich
Palma und Madrid derzeit über das Wie der künftigen Stromversorgung
in den Haaren liegen. Die hiesige Regierung pocht auf eine
Gasleitung vom Festland, Madrid favorisiert Stromkabel und
Gastransport per Schiff. Als vor wenigen Wochen Spaniens
Wirtschaftsminister Rodrigo Rato das Projekt REB als quasi beendet
betrachtete, war der Aufschrei groß. Erst nachdem selbst
Parteikollegen Kritik anstimmten, ruderte der Getadelte zurück.
Letztlich, das unterstreicht die Eurisles-Studie, haben Sonne
und Schatten auf dem Archipel einen Namen: Tourismus. Sonne, weil
mit den Fremden ein gewisser Wohlstand erreicht wurde. Schatten,
weil damit gleichzeitig bewusst wurde, dass Inseln ein fragiles
Ökosystem darstellen und nur begrenzte Ressourcen haben.
Beispiel Wasser: Fällt der Regen über längere Zeit aus, müssen
wie schon zwischen 1995 und 1999 Tankschiffe aushelfen. In ähnlich
trockenen Regionen auf dem Festland, etwa im Süden Valencias und in
Murcia, hat man es einfacher. Wasser aus dem Fluss Ebro soll in
Zukunft über ein Kanalnetz umgeleitet werden. Im Fall Balearen
greift das spanische Umweltministerium dagegen zur
Entsalzungsanlage. Die sind allerdings nicht nur in der Anschaffung
teuer, sondern verbrauchen viel Strom. Womit man wieder beim
Energieproblem wäre.
Wie sehr sich die Inseln dem Tourismus verschrieben haben, macht
ein Blick auf den Wandel in den Wirtschaftbereichen deutlich. In
der Landwirtschaft arbeiteten 2000 54 Prozent weniger Menschen als
noch zehn Jahre vorher. Und zwischen 1996 und 1998 ging die
landwirtschaftliche Nutzfläche um 16 Prozent zurück. Als Grund für
die Abkehr von der Landwirtschaft sieht die Eurisles-Studie aber
nicht ausschließlich den Tourimus.
Vielmehr seien die zur Verfügung stehenden Grundstücke zu klein,
um in Zeiten von Massenanbau rentabel arbeiten zu können. Das
begrenzte Territorium schlägt daher direkt auf die
Arbeitsmarktstruktur durch. Knapp 84 Prozent des BIP werden heute
direkt oder indirekt mit dem Urlauber erwirtschaftet. Doch
Monokulturen leiden in Krisenzeiten mehr als Mischkulturen. Zudem
haben die Balearen eine relativ kurze Saison, was sich in einem
hohen Anteil von zeitlich begrenzten Arbeitsverträgen
niederschlägt. All das sind Faktoren, die nicht nur nach Meinung
von Minister Mesquida bei der Weiterentwicklung des REB
berücksichtigt werden müssen.
Allerdings geht es dem durchschnittlichen Balearen-Bewohner
nicht so schlecht, wie es manchmal dargestellt wird. Erstens
gehören die Inseln zu den Regionen, die ein BIP erwirtschaften, das
über dem europäischen Mittel liegt. Und zweitens gelangen sie mit
dem Flugzeug günstiger (Ticket kostet etwa zehn Prozent des
Einkommens) nach Madrid als die Korsen nach Paris (23 Prozent). Zum
Luxus wird der London-Besuch für die Bewohner der Shetland-Inseln:
Sie müssen gar 68 Prozent eines Einkommens für den Flieger
hinlegen.
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