Ein paar Medikamente, ein Handy-Ladegerät, Unterwäsche, Wasser, ein bisschen was zu essen und die wichtigsten Dokumente sind alles, was Ganna Glaskova in ihrem Notfallrucksack auf dem Rücken trägt, als sie am Bahnhof Charkiw, ganz im Osten der Ukraine und nur rund 40 Kilometer von der russischen Grenze entfernt, in den Zug steigt. Fest in ihrer Rechten hält sie die wesentlich kleinere Hand ihres Sohnes Stepan. Der Achtjährige hat an diesem kalten Morgen des 4. März 2022 nur die Kleidung, die er am Leib trägt und einen kleinen Elch bei sich. Das hellbraune Kuscheltier mit dem weiß-roten Schal um den Hals kommt aus Spanien und wurde ihm von einem Freund seiner Eltern vor vier Jahren aus dem Urlaub mitgebracht. Weder Stepan noch seine Mutter ahnen an diesem Morgen, dass es für den Kuschel-Elch zurück nach Hause geht.
Seit der Krieg seine hässliche Fratze zeigt, bestimmt vor allem Angst das Leben der jungen ukrainischen Familie. „Wir haben vor unserer Flucht im eiskalten Keller geschlafen. In unserer Wohnung und unseren Betten zu übernachten, war viel zu gefährlich”, erinnert sich die 34-Jährige, die vor all dem als Selbstständige in der Modebranche arbeitet. Ihr Mann und Stepans Vater, Ivan Plotnikov, bleibt auf dem Bahnsteig zurück, als der Evakuierungszug die beiden wichtigsten Menschen in seinem Leben aus der Gefahrenzone in Richtung Westen bringt. Er ist nicht beim Militär, muss aber als wehrfähiger junger Mann trotzdem bleiben.
Vom ersten Stopp in der Westukraine geht es auf Schienen weiter ins polnische Krakau. Von dort mit dem Flugzeug in die Niederlande und schließlich nach insgesamt vier Tagen Reisezeit erneut auf dem Luftweg nach Mallorca. „Ich habe eine ukrainische Freundin hier, die uns angeboten hatte, bei ihr und ihrem Freund zu übernachten.” Schnell merken Mutter und Sohn allerdings, dass ihre Anwesenheit dem Hausherrn alles andere als recht ist. Schon kurze Zeit später finden sie sich deshalb mit ihren wenigen Habseligkeiten vor der Tür des Roten Kreuzes wieder. Sie kommen im ehemaligen Corona-Quarantäne-Hotel Palma Bellver am Paseo Marítimo unter. Auch das aber nur auf Zeit. Finden die beiden keine andere Lösung, müssen sie erneut auf eine Reise ins Ungewisse gehen. Dann, so sagen die Helfer vor Ort, gehe es für die beiden wahrscheinlich weiter auf das spanische Festland.
Dana und Tobias Gschwend leben seit fast zehn Jahren auf Mallorca. Die beiden haben sich hier kennen- und lieben gelernt. Nach gerade einmal drei Monaten Beziehung entschlossen sich der Koch und die ehemalige Reiseleiterin damals, das Restaurant La Cubita in Peguera zu übernehmen. Ein echtes Wagnis und eine Entscheidung, die heute sinnbildlich dafür steht, dass die mittlerweile dreiköpfige Familie schon immer eher Nägel mit Köpfen macht, als nur darüber zu reden.
„Es gibt in Peguera einen guten Geist. Sie ist Britin und heißt Tracy”, erzählt Dana Gschwend und ergänzt: „Sie hatte uns darauf aufmerksam gemacht, dass in dem Hotel in Palma Flüchtlinge untergebracht sind und gefragt, ob wir helfen wollten.” Vielleicht habe es etwas damit zu tun gehabt, dass Tobias Gschwend als Kind adoptiert wurde. Vielleicht sei es auch nur das leere Gästezimmer und somit die Möglichkeit, helfen zu können, gewesen, die den Ausschlag gegeben habe. „So genau kann ich es nicht mehr sagen. Letztlich wollten wir einfach etwas tun”, sinniert die 40-Jährige gedankenverloren.
Als Ganna Glaskova erfährt, dass es jemanden gibt, der sie aufnehmen will, telefoniert sie als erstes mit ihrem Mann. „Das klingt im Nachhinein doof, aber ich wusste ja nicht, was auf uns zukommt, und ob es die Unbekannten gut oder schlecht mit uns meinen. Deshalb habe ich ihm alle Informationen gegeben, die ich hatte, damit er im Notfall weiß, wo er nach uns suchen muss.” Ihre Ängste, wenn auch durchaus angebracht, blieben unbegründet. „Dana und Tobias sind so liebe Menschen, und ich bin so glücklich, dass es das Schicksal dann doch so gut mit Stepan und mir gemeint hat. Es ist ein großes Geschenk.”
Was als Hilfsangebot beginnt, wird innerhalb weniger Monate zu einer Patchwork-Familie über Kultur- und Landesgrenzen hinaus, freut sich Dana Gschwend. „Besonders unser sechsjähriger Noah hatte Startschwierigkeiten damit, plötzlich so etwas wie einen neuen Cousin zu haben. Da gab es einige Rangeleien.” Es sei aber schön zu sehen, wie die beiden Jungs mittlerweile zusammenhalten würden, um sich gemeinsam gegen die elterlichen Regeln aufzulehnen. „Ich bewundere Ganna sehr”, erzählt Gschwend. „Was sie trotz allem für ein lebensfroher Mensch ist, und wie sie sich durch die neue Situation durchbeißt, ist bemerkenswert. Überhaupt habe ich das Gefühl, dass wir uns alle gegenseitig bereichern, voneinander lernen und aneinander wachsen. Natürlich gibt es Probleme, aber die schaffen wir aus der Welt, in dem wir offen miteinander reden.”
Angekommen bei lieben Menschen, könnte das Leben auf der Sonneninsel Mallorca ein wahr gewordener Traum sein. Wären da nicht die täglichen Nachrichten aus Glaskovas Heimat. „Meine ganze Familie lebt noch in Charkiw. Ich werde nie die Geräusche vergessen, die die Militärmaschinen über unseren Köpfen machten. Ich habe Angst, dass meinen Angehörigen etwas passiert.” Spricht Glaskova mit ihrem Mann, sage er regelmäßig, sie solle sich darauf einstellen, ein paar Jahre auf Mallorca bleiben zu müssen, schließlich wisse niemand, was künftig auf die Ukraine und ihre Menschen zukomme.”
Die 34-Jährige hat mittlerweile einen Job in einer Smoothie-Bar in Palmanova und ist mit Sohn Stepan zusammen durchaus auf Mallorca angekommen. Auch wenn es nichts gibt, was die Schrecken des Krieges in ihrer Heimat weniger schrecklich machen könne, so seien die Worte, „Ihr seid hier keine Gäste, das ist jetzt euer Zuhause”, die die Familie Gschwend den beiden Geflüchteten immer wieder entgegenlächeln, zumindest ein kleines Licht in dieser dunklen Zeit.
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