Seit Mendelssohn den Dirigenten als eigenständigen Beruf etabliert und auf ein Pult gestellt hat, gehen die Taktstock-Löwen in allen möglichen Spielarten ihrem Handwerk nach. Der Zweck ist immer der gleiche: eine Partitur, auch das Kleingedruckte darin, zum Klingen zu bringen. Dass dazu eine ganze Menge Knowhow nötig ist, versteht sich von selbst. Leonard Bernstein hat dem, was einen Dirigenten ausmacht, 30 Seiten in seinem immer noch lesenswerten Buch „Freude an der Musik“ gewidmet. Diese „basics“ haben all Dirigenten drauf. Aber dann scheiden sich die Geister: es gibt die Sparsamen (was den körperlichen Aufwand betrifft). Zu ihnen gehören der bereits erwähnte Richard Strauss, und auch Karl Böhm zeichnete sich nicht eben durch akrobatische Höchstleistungen aus. Sie sind eine Art Verwalter des Notenmaterials. Es gibt die Machtmenschen vom Schlage eines Herbert von Karajan, für die der Taktstock eine Art Szepter ist, mit dem sie sich das Orchester unterwerfen. Es gibt die Schwadoneure, die bei den Proben endlos Anekdoten in epischer Breite erzählen. (Das geht den Musikers bisweilen ziemlich auf die Nerven. Bei einer Probe des großen Otto Klemperer soll einem Geiger der Kragen geplatzt sein, er rief dem Maestro zu „Klemp, quatschen Sie nicht so viel!“)
Und dann sind da die Ausdruckstänzer, die auf dem Podium herumturnen wie Schmidtchen Schleicher aus dem gleichnamigen Kultschlager von 1975, der Mann „mit den elastischen Beinen“, der so „gefährlich in den Knien federn“ konnte. „Die Frauen fürchten sich und fangen an zu weinen“ heißt es weiter im Schlagertext. Ja, auch das hat es gegeben. Eine Bratschistin aus dem RSO Stuttgart hat mir einmal erzählt, dass in der Ära Celibidache viele Kolleginnen heulend aus der Probe gegangen seien. In Donna Leons Krimi „Venezianisches Finale“ macht sich der Dirigent Helmut Wellauer über das künstliche Gebiss eines Fagottisten lustig, das er beim Spielen klappern gehört haben wollte und stellt ihn vor dem Orchester bloß. Kurz darauf wird er ermordet… – Die Königsklasse stellen sicher die Magier dar. Dirigenten wie Leonard Bernstein lassen mit viel Charisma und einem immensen Aufwand an Leibesübungen die Partituren förmlich explodieren. Ihre Auftritte sind ganz großes Kino, haben Show-Qualitäten, die ihnen intellektuell an die Sache herangehende Kritiker oft zum Vorwurf machen. Aber indem sie nicht nur fürs Orchester dirigieren, sondern auch fürs Publikum, setzen sie das, was erklingt, in Bewegung um. Sie ermöglichen damit ein Erleben auf zwei Sinnesebenen: akustisch und optisch.
Joshua Weilerstein führte das gestern Abend mit ungeheurer Suggestivkraft vor. Und so kam ein Mozart dabei heraus, bei dem man die großen melodischen Bögen, die er in seiner „Linzer Sinfonie“ spannt, nicht nur hören, sondern auch sehen konnte. Weilerstein verwies mit großen Bewegungen auf Details, die einem beim bloßen Hören vielleicht entgangen waren, machte scheinbare Nebenstimmen (die es bei Mozart eigentlich gar nicht gibt) optisch präsent. Wenn so etwas gelingt, ist das eben nicht mehr bloße Show, sondern eine nicht zu unterschätzende Interpretationshilfe für die Zuhörer. Das Gleiche lässt sich über das Rachmaninoff-Stück sagen. Gewalt und Anmut, Schroffes und Besänftigendes wurden auch hier zu einem zweigleisigen Erlebnis. Ein großer Abend zum Saisonende, der zu Recht mit euphorischem Beifall bedacht wurde.
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