Dutzende Straßenverkäufer versuchen Tag für
Tag ihr Glück auf Palmas Straßen. Meist bieten sie ihren Nippes von
der Polizei unbehelligt feil, hin und wieder aber greifen die
Ordnungswächter durch und nehmen gleich eine ganze Gruppe der meist
aus Schwarzafrika stammenden Männer fest. Denn der Verkauf von
Waren auf der Straße ohne Genehmigung durch das Rathaus ist in
Palma verboten – und zwar schon seit mindestens 1915. Nachzulesen
ist das in der Verordnung, die der Stadtrat in jenem Jahr erlassen
hat.
Das Bußgeld beträgt in solchen Fällen 90'15 Euro, wie aus dem
balearischen Amtsblatt hervorgeht, wenn dort die säumigen Zahler
veröffentlicht werden. Da tauchen dann stets ellenlange Listen auf,
mit Namen wie Diop, Diouf, Touré, Niang oder auch Thiam – nebst dem
Verweis auf die bald 100 Jahre alte Verordnung. „Es scheint so,
dass Teile dieser Ordenanza noch immer in Kraft sind”, heißt es bei
Palmas Lokalpolizei.
Kurios: Genau weiß das bei der Stadtverwaltung offenbar niemand.
Denn auf die Frage, welche Vorschriften von 1915 denn sonst noch
bis heute gültig seien, gibt es keine Antwort. „Wir können nur
Auskunft darüber geben, ob ein bestimmter Artikel der Verordnung
weiterhin Bestand hat”, heißt es bei Palmas Presseamt. Vermutlich
habe man die meisten Paragrafen im Laufe der Jahre durch neue
Verordnungen modifiziert oder für ungültig erklärt. Als Ganzes ist
das Dokument von 1915 aber nie widerrufen worden – und so findet es
sich auf der Internetseite der Stadt alphabetisch eingereiht unter
all den anderen Verordnungen, die es heute gibt.
Auch Artikel 25 des historischen Dokuments ist weiterhin in
Kraft. „Es ist verboten, Hauswände oder -türen zu bekritzeln” – das
gilt heute wie damals, auch wenn in diesem Zusammenhang im 21.
Jahrhundert wohl eher von Graffiti die Rede wäre. Artikel 238 hat
ebenfalls weiterhin Gültigkeit. „Es ist verboten, auf den Straßen
und Plätzen der Stadt zu betteln”, steht dort und so verhängt die
Polizei weiterhin Geldstrafen auf der Grundlage dieser Vorschrift.
Vermutlich nicht mehr angewandt wird dagegen der zweite Teil
desselben Artikels: „Wer trotzdem im öffentlichen Raum bettelt,
wird in die Besserungsanstalt gebracht”.
Tatsächlich verrät jene, mehrere 100 Seiten lange Verordnung mit
ihren fast 1000 Artikeln eine ganze Menge über die Stadt Palma, wie
sie 1915 war – und schon lange nicht mehr ist. Auch wenn einige
Vorschriften das Jahrhundert überdauert haben. Allein die
Entwicklung der Einwohnerzahl verbildlicht den Wandel. 1910 gab es
in Palma laut Statistikamt 67.544 Einwohner. Heute sind es rund
sechsmal so viele.
Einen besonders hohen Stellenwert haben in der Verordnung von
1915 die Hygienevorschriften. So müssen Fleisch- und Fischverkäufer
ihre Utensilien regelmäßig reinigen – sogar das genaue
Mischverhältnis des Desinfektionsmittels ist festgelegt. Nach einem
Mieterwechsel müssen die Wohnungen desinfiziert werden. Ein ganzes
Kapitel ist der Prävention von Pockenepidemien gewidmet. Auf den
Boden spucken ist verboten.
Auch dem Straßenverkehr sind Dutzende Artikel gewidmet. So haben
die Straßenbahnen, die es noch bis in die 50er Jahre in Palma gab,
stets Vorfahrt. Auf die fahrenden Waggons aufzuspringen, ist nicht
erlaubt. Auch damals gab es bereits Einbahnstraßen. Den Fahrern der
noch selten anzutreffenden Automobile war es vorgeschrieben, an
Ecken und Kreuzungen zu hupen.
Auch genaue Moralvorstellungen der Obrigkeit sprechen aus der
Ordenanza. So herrschte in den öffentlichen Badeanstalten strikte
Geschlechtertrennung. Äußerungen, „die sich gegen die Religion oder
die guten Sitten richten, oder die Gesetze sowie die staatlichen
Autoritäten geringschätzen”, sind verboten – ebenso wie
Sonntagsarbeit.
Auch Verbraucherrechte tauchen schon 1915 auf: Die Händler
müssen ihre Kunden in der Reihenfolge bedienen, in der diese zu
ihnen kommen, und es dürfen keine Spielzeuge verkauft werden, die
mit giftigen Substanzen bemalt sind. Auf den Märkten gibt es
öffentliche und geeichte Waagen, an denen jeder Bürger
kontrollieren kann, ob ihm möglicherweise zu wenig Ware verkauft
wurde.
Manchmal versetzt die Ordenanza in eine längst vergangene Zeit:
So dürfen die Häuser der Stadt eine Höhe von 20 Metern nicht
übersteigen – historische Aufnahmen belegen: Die Kathedrale
überragte jedes andere Gebäude der Stadt damals noch um Längen.
Kinderarbeit ist offenbar völlig normal und muss daher per
Verordnung unterbunden werden. Es ist verboten, Tiere mit Steinen
und Stöcken zu malträtieren und Schusswaffen ohne Genehmigung
abzufeuern. Demente, „Unnormale” und Betrunkene dürfen nicht ohne
angemessene Begleitung auf die Straße.
In mancher Hinsicht aber war die Verordnung von 1915 ihrer Zeit
auch weit voraus. Es sind gleich mehrere Artikel der Regulierung
des Fahrradverkehrs gewidmet. So mussten die Räder mit Licht, Hupe
und Bremse ausgestattet und registriert sein. Fahren in der Gruppe
war verboten und an jeder Ecke sowie Kreuzung galt es, die
Geschwindigkeit „auf die eines Pferdes zu drosseln”.
Heute dagegen, da das Rathaus die Nutzung der Zweiräder gerne
wieder fördern möchte, gibt es vielfach Kritik, dass die Rechte und
Pflichten der Fahrradfahrer in Palma nicht durch eine Verordnung
geregelt sind. Vielleicht sollten die Politiker sich einfach einmal
das historische Dokument vornehmen – auch wenn eine gründliche
Überarbeitung nötig wäre: Denn laut Artikel 107 der Verordnung war
in Palma damals noch der Linksverkehr vorgeschrieben.
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